Anläßlich der Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien hat die Aktion „Wiesel“ in Neunkirchen junge Erwachsene mit entsprechenden Erfahrungen interviewt. Sie schildern ihre Erlebnisse in einer suchtbelasteten Familie anonym – aber authentisch. Sie können hier diese Interviews lesen.
Interview mit erwachsenem Kind aus suchtbelasteter Familie (weiblich, 43 Jahre)
Welches Suchtmittel war während Ihres Aufwachsens kontinuierlich vorhanden?
Als Kind war es normal für mich, dass die Erwachsenen – vor allem die Männer in der Familie- Alkohol tranken.
Wann haben Sie das erste Mal gemerkt, dass Ihr Vater Alkohol konsumierte?
Ich kann mich an kein konkretes erstes Mal erinnern. Von meiner Mutter weiß ich, dass mein Vater schon in seiner Jugend, also vor meiner Geburt, gerne viel getrunken hat. Ich glaube, dass sie das anfänglich noch nicht so als Problem gesehen hat. Im Laufe der Beziehung wurde es dann aber immer schwieriger.
Wie haben Sie als Kind den Alkoholkonsum Ihres Vaters bemerkt?
Wenn mein Vater Alkohol getrunken hatte, war seine Stimmung meistens schlecht. Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind in ständiger Angst vor dieser aggressiven Stimmung meines Vaters gelebt habe. Wenn mein Vater nüchtern und friedlich war, dann war alles gut und leicht. Aber wenn er angetrunken nach Hause kam, dann gab es meistens Streit zwischen meinen Eltern. Der ging sehr lautstark zu und oft ging auch etwas zu Bruch dabei.
Wussten Sie, dass diese wechselnden Stimmungen etwas mit dem Alkohol zu tun hatten?
Als kleineres Kind hab ich noch nicht gewusst, dass diese wechselnden Stimmungen etwas mit dem Alkohol zu tun haben. Das hab ich erst nach und nach verstanden- aus Gesprächen, die ich mitgehört habe. Ich glaube, dass meine Mutter als ich so 8 oder 9 Jahre alt war, auch mit mir selbst darüber gesprochen hat, dass mein Vater zu viel Alkohol trinkt.
Gab es einen Schlüsselmoment, an den Sie sich erinnern und der mit dem Konsum in Zusammenhang stand?
Nein, es gab nicht den einen Moment. Für mich als Kind waren vor allem die vielen Streitigkeiten zwischen meinen Eltern und das laute aggressive Verhalten meines Vaters, wenn er getrunken hatte, schlimm. Damals war es überlebenswichtig für mich, immer zu wissen, welche Stimmung gerade zuhause herrschte, also wie die Stimmung meines Vaters war oder wie meine Eltern gerade zueinanderstanden, ob sie im Streit waren oder nicht. Ich hab jeden Tag, manchmal auch mehrfach am Tag meine Mutter gefragt, ob der Papa lieb oder böse ist. Es war eine andauernde Anspannung. Auch wenn ich nichts dagegen machen konnte, wollte ich zumindest wissen, ob es zu einem Streit kommen könnte oder eher nicht.
Wie gingen Sie als Kind mit den Streitigkeiten Ihrer Eltern um?
Wenn meine Eltern Streit hatten, bin ich meiner Mutter nicht von der Seite gewichen. Meistens hab ich während der ganzen Schreierei auf ihrem Schoß gesessen. Das hat sich für mich so angefühlt, als würde ich meine Mutter beschützen. Meine jüngere Schwester ist oft zu den Großeltern geflüchtet, die im Nachbarhaus gewohnt haben. Das wäre mir nie eingefallen und ich hätte es auch nicht ausgehalten, zu wissen, die Eltern haben Streit und ich bin nicht dabei.
Gibt es eine besonders schlimme Situation, die Sie erinnern?
Als ich 10 Jahre alt war, wollte meine Mutter mit uns in einer Nacht-und Nebel-Aktion ausziehen. Sie hatte alles ohne Wissen meines Vaters vorbereitet. Am Tag des Umzugs kam ich mittags von der Schule nach Hause und habe schon von draußen meinen Vater schreien gehört. Er war überraschend nach Hause gekommen als meine Mutter am Ausräumen war. Er war so wütend, dass er sogar Möbel aus dem Fenster geworfen hat.
Wie ging es dann für Sie und Ihre Schwester weiter?
Wir sind dann schließlich doch ausgezogen und zwar zu den Großeltern mütterlicherseits. Dort haben wir vier Jahre in sehr beengten Verhältnissen gewohnt. Die Streitigkeiten meiner Eltern gingen trotzdem weiter. Mein Vater kam oft abends angefahren und beide haben sich dann stundenlang an der Haustüre angeschrien. Meine Schwester und ich hatten dann immer große Angst. Ich hab meinen Vater oft weinend angefleht zu gehen oder aufzuhören, aber meistens ging es immer weiter. Ich weiß noch, dass meine Großeltern auch zweimal die Polizei gerufen haben.
Für mich war diese Zeit auch deshalb schlimm, weil auch mein Großvater mütterlicherseits Alkoholiker war und ich oft miterleben musste, wie er meine Oma, aber auch uns, in betrunkenem Zustand beschimpft hat. Er war oft in einem schlimmen Zustand und ich schäme mich immer noch, davon zu erzählen.
Meine Mutter hat sich in dieser Zeit sehr in ihre Arbeit geflüchtet. Sie kam öfter später von der Arbeit nach Hause und meine Schwester und ich haben dann auf sie gewartet. Obwohl ich selbst dann auch immer viel Angst hatte, hab ich die nicht gezeigt, weil das meiner Schwester noch mehr Angst gemacht hätte. Ich hatte das Gefühl, wenn ich nicht stark bin, geht alles unter.
Gab es jemanden, mit dem Sie darüber sprechen konnten?
Nein, eigentlich nicht. Es gab zwar in der Familie Menschen, die sehr wichtig für mich waren, wie z.B. meine Großeltern väterlicherseits oder die Oma mütterlicherseits. Die haben sich so gut sie es konnten, um meine Schwester und mich gekümmert. Ich erinnere mich mit ihnen an viele schöne Momente. Wenn wir bei meinen Großeltern väterlicherseits waren, konnten wir einfach nur spielen und brauchten keine Angst vor irgendwas zu haben. Die meisten schönen Erinnerungen aus meiner Kindheit haben mit Erlebnissen bei meinen Großeltern zu tun.
Konnten Sie mit den Großeltern auch über Ihre Sorgen und Ängste sprechen?
Nein. Ich hab mit meinen Großeltern nicht über meinen Vater oder die Streitigkeiten meiner Eltern gesprochen. Ich hab oft zugehört, wenn z.B. meine Mutter mit meiner Oma über meinen Vater geredet hat. Meine Mutter hat auch öfter mit mir über ihre Probleme mit meinem Vater gesprochen. Aber dabei ging es eher um sie als um mich. Ich weiß noch, dass ich sehr stolz war und mich sehr erwachsen gefühlt habe, wenn meine Mutter solche Gespräche mit mir geführt hat.
Gab es Erwachsene, von denen Sie als Kind auf Ihre Familiensituation angesprochen wurden?
Nein. Es hat niemand mit mir und wie es mir in der ganzen Situation ging, geredet. In der Grundschule war ich immer eine sehr gute und beliebte Schülerin. Ich glaube, deshalb ist es auch dort niemandem aufgefallen, was bei uns los war. Ich selbst hab auch mit niemandem darüber geredet, ich glaube, weil ich mich auch dafür geschämt hab. Vor allem als ich dann auf dem Gymnasium war und wir nach der Trennung unserer Eltern im Haus unserer Großeltern gewohnt haben, ist mir klargeworden, dass es in unserer Familie anders ist als in den Familien meiner Freundinnen. Weil es bei uns so wenig Platz gab und unser Opa oft angetrunken war, hab ich nur selten Kinder zu mir eingeladen.
Die Väter meiner Mitschülerinnen auf dem Gymnasium waren Ärzte, Lehrer oder hatten andere gute Berufe. Mein Vater hat irgendwann aufgrund des Trinkens seine Arbeit verloren. Er war noch eine Zeitlang als Hilfsarbeiter tätig und hat dann gar nicht mehr gearbeitet. Ich habe mich für meinen Vater immer geschämt. Von der Zeit auf dem Gymnasium weiß ich noch, dass ich zwar eine gute Schülerin, aber schüchtern und still war.
Wie haben Sie als Kind, bzw. Jugendliche auf den Alkoholkonsum Ihres Vaters und auch Großvaters reagiert?
Das Hauptgefühl in meiner Kindheit war Angst. Die hatte ich eigentlich fast immer- vor meinem Vater, vor Streit. Ich kann mich erinnern, dass ich mich im Alter von 10 oder 11 gefragt habe ob dieser Albtraum nie aufhört. Ich hatte in dieser Zeit auch die Phantasie, meinen Vater zu töten. Das hört sich jetzt vielleicht schlimm an, aber für mich war das damals die einzig denkbare Lösung, dass es ihn nicht mehr gibt.
Ich hatte als Kind auch immer Sorgen um meine Mutter. Obwohl mein Vater sie nie geschlagen hat, hatte ich immer Angst, dass er ihr was tun könnte. Für mich war sie der wichtigste Mensch und die Zeit mit ihr war kostbar.
Viele Ängste hatte ich auch wegen meiner jüngeren Schwester. Sie hatte in der stressigen Zeit, in der wir bei unseren Großeltern gewohnt haben, zwei Krampfanfälle gehabt. Die hab ich nachts miterlebt. Ich hab nach dem ersten Anfall nachts auf den Atem meiner Schwester gehört, weil ich Angst hatte, dass nochmal so ein Anfall kommen könnte. Vor dem Einschlafen hab ich immer lange gebetet, auch, dass kein Anfall mehr kommen soll. Als der zweite Anfall dann doch kam, hab ich beschlossen, nicht mehr an Gott zu glauben und mit dem Beten aufgehört. Dabei ist es bis heute geblieben.
Obwohl ich nach außen hin eher still und schüchtern war, hab ich mich als Kind wichtig gefühlt. Ich war überzeugt, dass ich bei Streitigkeiten meiner Eltern dabei sein muss, um aufzupassen, dass nichts Schlimmes passiert. Bei einem Streit nicht dabei zu sein, hätte mir die größte Angst gemacht.
Hat Ihr Vater/Großvater Hilfe in Anspruch genommen?
Nein, beide wollten nie Hilfe. Ich glaube, mein Vater hat meiner Mutter zuliebe schon öfter versucht weniger zu trinken. Wenn er mal nüchtern war, war er auch ein anderer Mensch. Ich kann mich kaum an schöne Erlebnisse mit ihm erinnern. Nur einmal, da hat er im Garten ein Iglu aus Schnee für meine Schwester und mich gebaut. Da waren wir total beeindruckt und haben uns gefreut, als wir da reinklettern konnten.
Mein Vater hat es selbst nie so gesehen, dass er ein Alkoholproblem hat. Dementsprechend hat er auch nie irgendeine Therapie gemacht. Auch als er seine Familie und seinen Job verloren hatte und es immer mehr bergab mit ihm ging, hat er nicht versucht, was zu ändern.
Wie haben Sie ihr Erwachsenwerden erlebt?
Die Zeit als Jugendliche war für mich auch schwierig. Mein Vater hat mit dem Trinken weitergemacht und ist immer mehr abgerutscht. Als ich 14 war, sind meine Mutter, meine Schwester und ich von meinen Großeltern weg und in eine eigene Wohnung gezogen. Mein Vater hat uns ab da in Ruhe gelassen. Meine Mutter war berufstätig und meine Schwester und ich waren viel auf uns gestellt. Ich glaube, in der Zeit ging es mir oft nicht so gut. Ich hatte keinen festen Freundeskreis und ab dem Alter von ungefähr 15 hatte ich Freunde, die oft gewechselt haben. Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich bei denen vor allem Beachtung und Anerkennung gesucht habe. Die hab ich von denen gekriegt, weil ich wohl ziemlich hübsch war.
Hatten Sie als Jugendliche seelische Probleme?
Ich kann mich erinnert, dass ich mal geritzt hab. Ein andermal hab ich einen Text geschrieben, der davon gehandelt hat, wie ich mich aus dem Fenster stürze. Den hab ich dann meiner Mutter zu lesen gegeben. Auf den Text und auch auf das Ritzen hat sie zuerst erschreckt reagiert und war dann eher ärgerlich. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie nicht wusste, wie es mir geht und damit auch nicht umgehen konnte. Für sie stand ihr Leid immer im Vordergrund.
Ich kann mich auch erinnern, dass ich öfter mal Schlaftabletten von meiner Mutter genommen und mich damit weggebeamt habe. Das ist niemandem aufgefallen.
Was hat Ihnen damals geholfen?
Für mich war das Schreiben schon immer wichtig, um Gefühle zu verarbeiten. Schon als Kind habe ich angefangen, Tagebuch zu schreiben und das habe ich auch im Erwachsenenalter noch lange getan. Ich hab auch schon als Jugendliche Gedichte geschrieben.
Gut war auch, dass ich nie Probleme in der Schule hatte. Auch wenn ich nie einen großen Freundeskreis hatte, gab es doch immer die ein oder andere Freundin. Und später dann die Jungs, das hat mir schon auch geholfen, dass ich bei denen gut ankam.
Würden Sie sagen, dass Sie autonom, also selbständig geworden sind?
Das ist eine sehr gute Frage! Ich würde sagen, dass das für mich sehr schwierig war. Nach der Trennung von meinen Eltern hab ich mich dafür verantwortlich gefühlt, dass es meiner Mutter gut geht. Wenn ich als Jugendliche weggehen wollte, hat meine Mutter mich vorwurfsvoll angeschaut oder eine Bemerkung gemacht, dass ich sie jetzt alleine zuhause sitzen lasse. Oder beim Zurückkommen war dicke Luft.
Nach dem Abitur war es mir ganz wichtig auszuziehen um zu studieren und nicht zuhause zu bleiben. Ich Nachhinein gesehen war das auch richtig. Emotional unabhängig bin ich erst geworden, als ich mit meinem jetzigen Mann zusammengekommen bin. Damit war meine Mutter überhaupt nicht einverstanden und wir hatten mehrere Monate überhaupt keinen Kontakt mehr.
Fühlen sie sich mittlerweile unabhängig von ihr?
Meine Mutter und ich hatten immer eine ganz schwierige Beziehung zueinander mit vielen gegenseitigen Vorwürfen. Seit sie seit einiger Zeit im Altenheim lebt, haben wir irgendwie Frieden miteinander geschlossen. Ja, mittlerweile fühle ich mich unabhängig von ihr.
Trotzdem fällt es mir auch heute noch schwer, meinen eigenen Interessen und Plänen nachzugehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich denke dann immer, ich würde meine Familie vernachlässigen. Daran muss ich immer noch arbeiten, dass ich mich auch um meine eigenen Bedürfnisse kümmern muss und darf.
Wie ist es mit Ihrer Beziehung zu Ihrem Vater weitergegangen?
Nach der Trennung meiner Eltern hat meine Mutter das alleinige Sorgerecht erhalten. So etwas wie Besuchskontakte hatten meine Schwester und ich nie. Wir hätten das nicht gewollt und auch von meinem Vater kam da nie was. Als er schon ziemlich weit unten war und bei seinen Eltern, also meinen Großeltern, gelebt hat, haben wir ihn einmal in seinem Zimmer dort besucht. Ich habe mich da nur unwohl gefühlt und der Besuch hat auch nicht lange gedauert. Es gab danach höchstens zufällige Zusammentreffen. Eine richtige Beziehung zwischen meinem Vater und mir gab es nie. Ich habe als Kind hauptsächlich nur Angst vor ihm gehabt und mich dann später für ihn geschämt.
Als ich meinen ersten Mann geheiratet habe, habe ich meinen Vater nicht zur Hochzeit eingeladen. Er hat meinen Vater nie kennengelernt. Wir sind nur einmal mit dem Auto an ihm vorbeigefahren, als er betrunken nachhause getorkelt ist. Mir war es sehr unangenehm zu sagen, dass das gerade mein Vater war. Kurze Zeit nach meiner Hochzeit ist mein Vater im Alter von 54 Jahren gestorben. Ich war auf seiner Beerdigung und ganz schlimm für mich war, das ich gar nichts gefühlt hab. Das hat mich sehr traurig gemacht, dass mein Vater tot ist und ich nichts fühle.
Hatten Sie als Jugendliche oder später professionelle Unterstützung?
Ich hab erst nach der Trennung von meinem ersten Mann, da war ich schon 30, eine Psychotherapie angefangen. Damals bin ich gerade mit meinem jetzigen Mann zusammengekommen und ich hatte Angst, dass die Beziehung auch nicht lange hält. Ich hatte damals nämlich schon viele Beziehungen zu Männern gehabt, die alle nicht lange gehalten haben.
Viele Jahre nach der ersten Therapie habe ich dann nochmals eine Therapie bei derselben Therapeutin gemacht. Damals hatte mein Mann eine Angststörung und das war auch für mich eine sehr schwierige Zeit.
Was hat die Psychotherapie für Sie bewirkt?
Erst einmal habe ich es in der Therapie immer als Luxus erlebt, dass jemand nur für mich da ist und sich mit mir und meinen Gedanken beschäftigt. Ich wurde ermutigt, meine Gefühle und Bedürfnisse ernster zu nehmen und sie auch in meine Beziehung mehr einzubringen.
Konnten Sie in der Therapie auch die Alkoholabhängigkeit Ihres Vaters bearbeiten?
Es ging eher darum, wie ich mich als Kind gefühlt hab. Es hat mir gutgetan, dass zum ersten Mal jemand Mitgefühl mit mir als Kind gezeigt hat, aber das war auch ein sehr ungewohntes Gefühl. Durch die Therapie habe ich besser verstanden, warum ich mich auch heute noch in manchen Situationen nicht dazugehörig fühle oder dazu neige, alles regeln und kontrollieren zu wollen. Es sind dadurch nicht alle Probleme verschwunden, aber ich kann mich besser verstehen und sehe mich selbst irgendwie nachsichtiger.
Die Therapie hat sicher auch dazu beigetragen, dass meine Beziehung gehalten hat und ich den Mut aufbringen konnte, Kinder zu bekommen. Mein Wunsch war nämlich immer, in einer vollständigen Familie zu leben. Dass ich das geschafft habe, macht mich auch heute noch froh und stolz.
Wirkt sich die Alkoholabhängigkeit ihres Vaters trotzdem auch heute noch auf Sie aus?
Ich würde sagen ja, weil im Nachhinein gesehen, meine Kindheit mein ganzes weiteres Leben sehr geprägt hat. Einerseits hab ich mein Leben trotz der schlechten Ausgangslage bisher ganz gut gemeistert. Ich hab eine guten Beruf, der mir Spaß macht und bei dem ich gut verdiene. Und ich hab vor allem eine Familie, in der es mir gut geht und die funktioniert.
Aber es gibt in meinem Leben trotzdem immer wieder Phasen, in denen es mir schlecht geht. Das fühlt sich so an, als ob alle Freude verloren gehen würde. Alles erscheint grau und traurig. Nichts macht mehr Spaß.
Vor allem, wenn ich Menschen sehe, die sehr ausgelassen sind, werde ich oft traurig, weil ich das nicht sein kann. Mein Lebensgefühl ist eher so, dass ich immer auf der Hut sein muss. In meinem Kopf nehme ich oft schon alle möglichen Unglücksfälle, die passieren könnten, vorweg. Irgendwie so, als wäre Krieg und ich müsste mich immer auf den nächsten Bombeneinschlag gefasst machen. Vielleicht fühle ich das so, weil ich ja auch in gewisser Hinsicht aus einem Kriegsgebiet komme.
Wie denken Sie, wäre Ihr Leben ohne die Alkoholerkrankung Ihres Vaters verlaufen?
Ich glaube, ich hätte auf jeden Fall mehr Selbstbewusstsein, vor allem im Umgang mit anderen Menschen. Wahrscheinlich hätte ich mir auch mehr zugetraut, was das berufliche angeht. Bestimmt hätte ich da noch mehr erreichen können.
Ich stelle mir vor allem vor, dass mein Lebensgefühl anders wäre. Ich hätte mehr Vertrauen, dass alles gut geht und nicht so viele Ängste, was alles passieren könnte. Ich könnte mehr Spaß haben und mein Leben mehr genießen. Wahrscheinlich wäre ich einfach unbeschwerter.
Gibt es auch Stärken, die Sie aus Ihren Erfahrungen als Kind entwickelt haben?
Ich hab ja einen sozialen Beruf und ich glaube, ich kann mich ganz gut in Menschen hineinversetzen, die kein so tolles Leben haben. Das sehe ich in meinem Beruf auf jeden Fall als Stärke, dass ich weiß, wie Leute sich fühlen, die nicht so privilegiert sind.
Ich bin auch relativ unabhängig und versuche immer, Probleme erstmal alleine zu lösen. Das ist eine Stärke, führt aber auf der anderen Seite manchmal dazu, dass ich mich überfordert und alleine fühle.
Sonst fallen mir keine Stärken ein.
Wie ist Ihre heutige persönliche Einstellung zu Alkohol?
Ich halte Alkohol für eines der gefährlichsten Suchtmittel, die es gibt.
Wie gehen Sie selbst mit Alkohol um?
Ich versuche Alkohol nur gelegentlich und nur dann zu trinken, wenn es mir gut geht. Ich habe in meinem Leben nämlich schon öfter Phasen gehabt, in denen ich Alkohol getrunken habe, um belastende Gefühle wegzubekommen. Gottseidank waren diese Phasen nie sehr lange. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich in meinem Erwachsenenleben überwiegend gute Zeiten und viel Glück hatte. Ich kann mir aber vorstellen, dass, wenn das nicht so gelaufen wäre, der Alkohol auch für mich hätte zum Problem werden können. Ich bin auch heilfroh, dass mein Mann und meine große Tochter Alkohol nur sehr in Maßen trinken. Wenn das anders wäre, wüsste ich nicht, wie ich damit umgehen könnte.
Vielen Dank für das Interview!
Junger Mann, 25 Jahre alt, mit alkoholabhängiger Mutter
Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass deine Mutter Alkohol konsumiert?
Das ist schwierig zu sagen, weil das eigentlich so lange geht, wie ich mich erinnern kann. Wenn es einen Moment gab, wo ich gemerkt habe, dass das wirklich ein problematischer Suchtmittelkonsum ist, war der ziemlich spät. Weil – ich bin einfach mit zwei Müttern aufgewachsen, einer nüchternen und einer alkoholisierten. Es war Alltag.
Die betrunkene Mutter?
Also mir war schon klar, dass es vom Alkohol kam, aber mir war nicht klar, dass das eine Erkrankung ist. Mir war nicht klar, dass sie darüber keine Kontrolle hat. Mir war nur klar, dass sie relativ häufig getrunken hat und dann wie ein ganz anderer Mensch war.
Die nüchterne Mutter?
Nüchtern war sie relativ … ich sage jetzt einfach mal: normal. Man hat zwar schon Eigenarten gemerkt, wie dass sie auch nüchtern relativ konfrontativ war, aber … betrunken war das richtig krass. Also nüchtern hat man dann gemerkt, dass sie sich Mühe gab. Und betrunken war sie … Das kam immer auf das Stadium an. Manchmal, wenn sie dann den Gedanken hatte, dass sie eine schlechte Mutter wäre, war sie komplett überfürsorglich. Meistens allerdings einfach nur streitlustig und wahnsinnig impulsiv. Streits waren an der Tagesordnung. Jetzt weniger mit mir, sondern mehr mit meinem Ziehvater, also mit ihrem damaligen Partner. Was auch noch rausgestochen hat, war, dass sie, wenn sie mit Alkohol angefangen hatte, komplett das Verantwortungsgefühl …, sie hat es einfach weggespült mit Alkohol. Zum Teil war ich an manchen Tagen nicht in der Schule, weil mich keiner geweckt hatte. Also das war eher im Grundschulalter. Was meiner Mutter dann auch egal war. Zumindest, solange sie betrunken war. Das sind so die markantesten Sachen.
Konnte sie zeitweilig deine Bedürfnisse nicht mehr sehen und erfüllen?
Ja. Definitiv. Also ich kann mich an einmal erinnern, da hat sie was zu essen gekocht, und es gab für jeden ein Stück Fleisch. Und sie hat während dem Kochen angefangen zu trinken. Und bis das Essen fertig war, hatte sie schon so einen Pegel, dass sie einen Streit mit ihrem Partner losgebrochen hat. Üblicher Streit. Also es wurde rumgeschrien, es wurden sich Sachen an den Kopf geworfen. Ich weiß nicht mehr, welche. Ich weiß nur, dass ich da als Kind, ich weiß nicht, wie alt ich war, ich glaube sieben oder acht, also noch relativ klein, dass ich da genau wusste, da muss ich aus der Schussbahn bleiben. Und irgendwann hatte ich dann Hunger und habe mir ein Stück Fleisch genommen. Und später, wenn sie mal in dem Modus war, hat sie sich auch nicht mehr beruhigt. Also der Streit hat sich über Stunden gezogen. Ich habe mir dann später noch ein Stück Fleisch genommen.
Und als sie das gemerkt hat, ist sie dann auch komplett ausgeflippt, hat mich angeschrien. Nicht kurz, sondern wirklich über längere Zeit, was mir einfällt, wieso ich einfach mir die besten Sachen raushole. So Sachen hat sie dann um sich geworfen. Metaphorisch gesprochen.
Wie hast du als Kind diese Janusköpfigkeit deiner Mutter erlebt?
Also ich habe lange Zeit gedacht, dass es relativ normal ist, weil ich nix kannte. Ich war jetzt nicht oft bei Freunden und hätte da die super Bilderbuchfamilie vorgefunden. Meine Tante und meine Oma, bei denen habe ich erst gemerkt, dass es auch anders geht. Meine Oma hat dann auch irgendwann zum Teil, ja, man muss eigentlich sagen, die Mutterrolle übernommen. Also ich habe wirklich sehr viel Zeit mit ihr verbracht. – Ich wusste als Kind genau, es gibt die eine Mutter, die zwar streng ist, wie jede Mutter, weil, ohne Regeln geht es nicht. Und eine Mutter, vor dem man sich dann einfach verstecken muss, wo es kein Argument mehr gibt, wo es keine Garantie gibt.
Und meine Tante – bei der habe ich auch relativ früh gemerkt, dass es anders geht. Weil, es war einfach ein ganz anderes Klima. Zum einen hat sich nicht alles um Alkohol gedreht. Also wenn getrunken wurde, dann so wenig, dass ich es den Leuten nicht angemerkt habe. Und auch nüchtern war alles viel ruhiger, geordneter. Jeder hatte so seine Aufgaben. Auch ich, wenn ich dann mal eine Zeit lang dort war. Es hat sich nicht alles um Konflikt gedreht. Nicht alles um Alkohol, nicht alles um Konflikt.
Ich hatte, wenn ich bei meiner Tante war, nie das Gefühl, was ich bei meiner Mutter schon hatte, dass ich manchmal eine Münze werfe und dann damit leben muss, was rauskommt. Weil es kam auch schon vor, dass, wenn ich dann in der Grundschule so gegen 13 Uhr heimgekommen bin, dass sie dann schon so betrunken war, dass mal wieder entweder Streit angestanden hat oder dass ich irgendwie sehen musste, dass ich was zu essen bekomme.
Also bei meiner Tante war es weniger so, dass es wie ein Münzwurf war. Ich wusste eigentlich immer, dass sie freundlich ist. Bei meiner Mutter, wenn sie getrunken hatte, sie hat dann auch zum Teil Sachen an mir ausgelassen, die gar nicht meine Schuld waren. Ja, wie meine Mutter mir entgegengetreten ist, war, wenn sie betrunken war, eigentlich wie das Wetter. Also genauso wenig Einflussnahme möglich. Bei meiner Tante war das nicht so. Ich wusste genau, solange ich jetzt nicht irgendwas wahnsinnig Dummes angestellt habe … dass sie nicht aus der Haut fährt, so freundlich ist, dass sie auch Verständnis zeigt, was eben schon ein Kontrast ist zu dem ganzen Streit. Man kann es eigentlich mit einem streitsüchtigen Verhalten benennen.
Hat dein Ziehvater nicht interveniert?
Er hat es zumindest meistens probiert. Aber auch er … Also er ist kein Alkoholiker, aber er hatte trotzdem ziemliche Probleme, mit Streit konstruktiv umzugehen. Er hat oft versucht, deeskalierend auf die Situation einzuwirken, aber meistens völlig falsch. Er hat den Streit dann schon mit angeheizt. Ja, er hat versucht, Aggressionen mit Aggressionen unter Kontrolle zu bekommen. Er war nicht so unberechenbar. Also er hat mich da aus der Schussbahn rausgehalten. Aber wenn meine Mutter mich angeschrien hat, hat er meine Mutter angeschrien. Manchmal hat es ihm auch gereicht, und er ist einfach weggefahren. Ja. Er hat es versucht. Manchmal hat es funktioniert, aber meistens hat es einfach nicht funktioniert.
Wie würdest du das Verhältnis von Nüchternheit und Betrunkenheit deiner Mutter beschreiben?
Das hat sich mit der Zeit geändert. Also anfangs war sie relativ selten betrunken. Aber schon so oft, dass ich aus dem Kindergarten … Also wenn mein Ziehvater noch irgendwelche Erledigungen zu machen hatte, nachdem er mich aus dem Kindergarten abgeholt hat, hat er mich nie allein zu Hause gelassen, weil er nicht wusste, ob sie schon getrunken hatte oder nicht. Aber anfangs war das eher so: 70 Prozent der Zeit nüchtern. Und später kamen dann Phasen, wo sie wirklich tagelang gar nicht mehr aufgehört hat zu trinken. Da waren es dann mehr so, ja, 70, 80 Prozent betrunken.
Gibt es weitere Schlüsselmomente, die du erlebt hast mit deiner Mutter im Zustand der Konsums?
Ja, da gab es ein paar. Auch so Sachen, die normalerweise eher unter den Tisch gekehrt werden. Wie gesagt, mein Ziehvater hat oft erfolglos versucht, mich aus der Schussbahn zu holen. Aber manchmal war es dann auch so weit, dass er gesagt hat, er bringt mich zu meiner Oma, also zur Mutter von meiner Mutter, dass ich da mal weg bin. Und die zwei lagen natürlich im Streit. Meine ziemlich betrunkene Mutter hat dann entschieden …, also sie hat sich einfach mit ins Auto gesetzt und hat sich geweigert, uns alleine zu lassen. Und dann haben sie während der Fahrt gestritten. Sie hat dann irgendwann entschieden, dass ich nicht zur Oma fahren soll und hat während der Fahrt den Schlüssel abgezogen und aus dem Fenster geworfen, in einem Auto mit Lenkradsperre. Also das war … Mir war damals gar nicht klar, wie ernst das war. Weil wenn da ein anderes Auto entgegengekommen wäre, hätten wir einen Unfall gehabt.
Mein Ziehvater hat dann natürlich eine Vollbremsung gemacht. Und wir sind dann ausgestiegen und haben nach dem Schlüssel gesucht, während meine Mutter rumgeschrien hat. Das war dann auch so laut, dass ein Nachbar auf uns aufmerksam wurde und gefragt hat, was wir in seinem Garten suchen. Und er hat damit gedroht, die Polizei zu rufen. Und meine Mutter war davon unbeeindruckt und hat weiter rumgeschrien. – Dann habe ich irgendwann den Schlüssel gefunden und meinem Vater gegeben. Und wie es weiterging, weiß ich nicht mehr. Ja. Das war so … Also das war so ein Schlüsselmoment, der mir wirklich im Gedächtnis geblieben ist.
Da war ich auch noch im Grundschulalter. Oder vielleicht sogar noch im Kindergarten. Also da war ich so um die 6, 7 Jahre alt. Also es gibt mehrere Schlüsselmomente, die jetzt weniger krass sind, aber wo man sieht, wie impulsiv ein Suchtkranker handelt, wenn er unter dem Einfluss steht. Sie hat zum Teil Schränke zerstört, sie hat mal eine Tür … Also mein Ziehvater hat die Tür zugemacht, und sie hat gegen die Tür getreten, dass der Türrahmen beschädigt wurde. Ja. Das ist natürlich weniger dramatisch als jetzt während der Fahrt den Schlüssel abzuziehen, aber wenn man bedenkt, dass ein relativ kleines Kind noch in der Umgebung ist, das mitbekommt, wie so heftig gestritten wird, … Also es war nicht schön, so heftige Streits mitzuerleben.
Hatte denn dein Ziehvater nicht die Überlegung, dich deiner Mutter sozusagen zu entziehen?
Zur Hauptzeit der Sucht definitiv nicht. Ich weiß nicht genau, warum. Also er hat sehr viel in meiner Mutter gesehen, was ja auch … Sie ist ja kein durch und durch böser Mensch, bloß weil sie Alkoholiker ist. Er hat einfach lange versucht, das zum Laufen zu bringen, dass wir als Familie funktionieren. Und dann kam irgendwann die Zeit, da war ich schon auf der weiterführenden Schule, wo er, wo sie sich dann endlich getrennt haben. Und da hat er dann auch einen Schlussstrich gezogen. Also da hat er auch gesagt, wenn jetzt noch irgendwas wäre, dann wird er vor Gericht gehen und das Sorgerecht beantragen. Ist dann nicht so gekommen, weil wir einen Kompromiss eingegangen sind. Jetzt, wo er nicht mehr in die Streits involviert war, war es dann eine relativ gute Möglichkeit, dass er mich rausholen konnte, also in der Zeit der weiterführenden Schule war ich oft bei ihm, sowohl am Wochenende als auch unter der Woche, wenn meine Mutter getrunken hatte. Wir hatten da (im Rahmen der Betreuung durch Wiesel, C.O.) so einen Vertrag ausgehandelt, dass ich das …, also er das geklärt hat.
Gibt es weitere Momente?
Ja. Also ich habe auch noch einen Moment im Kopf, wo mal wieder Streit zwischen den beiden war und meine Mutter so viel getrunken hatte, dass sie zum einen nicht mehr … Man hat sie nicht mehr richtig verstanden. Und sie ist dann während dem Streit … sie hatte ihn angeschrien und ist dann irgendwann einfach umgekippt und auf dem Boden liegengeblieben. Ich weiß nicht, ob dann der letzte Schluck Alkohol angefangen hat zu wirken. Ich weiß nicht, warum. Aber gerade als Kind ist es schon schwer einzuordnen. Weil normalerweise, wenn jemand auf der Straße läuft und einfach umkippt, würde man ja einen Krankenwagen rufen. Und als Kind dann zu sehen, dass die Mutter da einfach umfällt und liegenbleibt, ja … Also ich war mit der Situation so oder so schon überfordert. Und das hat natürlich nicht geholfen dabei. – Mein Ziehvater hat sich dann um sie gekümmert. Also so gut er das konnte.
Gab es denn jemanden, mit dem du über all das gesprochen hast? Oder gab es ein Angebot, wo du darüber sprechen konntest, über den Alkoholismus deiner Mutter?
Ja. Also gerade, als ich älter wurde, habe ich da zum einen die Möglichkeit, mit meiner Oma, zu der ich zu der Zeit auch noch viel Kontakt hatte, drüber zu sprechen, auch offen zu sprechen. Weil sie wusste ja, dass ihre Tochter alkoholkrank ist. Das heißt, da konnte ich sehr offen mit ihr drüber reden, was auch sehr geholfen hat. Und ich bin dann irgendwann auf das schon angesprochene Wiesel-Angebot aufmerksam gemacht worden. Also das war so ein Angebot von der Caritas, also ist eine Gruppe für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien. Ja, das hat eigentlich auch sehr geholfen. Es wusste jeder, der in der Gruppe war, wie es ist, mit einem Alkoholkranken zu leben. Man konnte sich austauschen, man konnte nach Lösungsvorschlägen suchen. Über das Angebot bin ich sehr dankbar.
Die Gruppe war ja ein organisiertes Treffen. Und da hat man sich dann auch regelmäßig zusammengesetzt und über ein bestimmtes Thema gesprochen. Einmal, weiß ich noch, war das Thema: Wie geht ihr damit um, wenn einer der Elternteile getrunken hat. Und dann haben wir so gruppenarbeitsmäßig mal gesammelt. Und das hat geholfen. Und das wird ja erst dadurch ermöglicht, dass man genau weiß, hier muss man nichts unter den Teppich kehren, weil, jeder steckt in dem Boot drin. Das war schon hilfreich.
Was war deine Reaktionen auf die Alkoholabhängigkeit deiner Mutter?
Also es ist zum einen natürlich schwer zu sagen, weil ich nicht weiß … Ich habe keinen Vergleich damit, quasi ohne Alkohol. Es hat mich relativ distanziert gemacht und auch ein bisschen misstrauisch, weil, wenn man nicht weiß, wen man zu Hause vorfindet, dann weiß man auch nicht, ist es bei anderen Menschen genauso distanziert, weil man muss, wenn man noch ein Kind ist, öfter aus der Schusslinie gehen.
Distanziert heißt vor allem, man trägt nicht so viel nach außen, weil das Umfeld nicht sonderlich stabil ist. Es fehlt so ein bisschen die Sicherheit zu wissen, dass das, was man nach außen trägt, auch gut aufgenommen wird. Falls das irgendeinen Sinn ergibt.
Also was es auch noch gemacht hat, ist, dass ich relativ viel Verantwortung übernehmen musste, also, soweit man das als Kind kann. Man muss sich zum Teil um Essen kümmern. Also, was Essen angeht, habe ich meistens gegessen, was da war. Kochen konnte ich nicht. Aber welches Kind kann das schon?
Fällt Dir noch etwas ein?
Also selbst wenn das Trinken normal ist oder man das jetzt nicht als super-auffällig betrachtet, merkt man ja schon relativ schnell, dass es trotzdem an einer Flüssigkeit liegt, dass sich jemand verändert. Also jemand trinkt Bier und wird dann anders. Und da hatte ich dann auch oft das Gefühl, dass ich da was dagegen tun muss. So gut ein Kind das kann. Ich meine, mittlerweile weiß ich, dass Suchtkranke nichts so einfach aufhält. – Da habe ich dann zum Teil Kaffeepulver oder Salz ins Bier geschüttet, um es ungenießbar zu machen. Ja. Geholfen hat es natürlich nicht. Aber man hat früh das Gefühl, dass irgendwas schiefläuft. Selbst wenn man nicht weiß, dass das in anderen Familien eigentlich anders ist, und dass man da selbst was tun muss. – Ich habe gedacht, eine versalzende Suppe schmeckt nicht. Und zu starker Kaffee schmeckt auch nicht. Also ich wusste, dass Kaffee bitter ist. Und Salz, klar, wenn man zu viel reinkippt, dann wird es ungenießbar. Und gebracht hat es natürlich nichts, weil ein Glas Bier wird dann einfach ausgeschüttet, und dann wird das nächste aufgemacht.
Hat deine Mutter nur Bier getrunken oder auch Spirituosen?
Anfangs hauptsächlich Bier. Später dann auch relativ viele Spirituosen, was man dann auch gemerkt hat, weil die sind schwerer zu dosieren, weil sie so konzentriert sind. Ja. Dann hat sie auch ganz andere Pegel erreicht. Also, da hat sie sich, ja, wenn sie Spirituosen getrunken hat, dann hat sie bis zur Besinnungslosigkeit getrunken.
Gab es auch Situationen, in denen du den Notarzt gerufen hast?
Nein. Mit meinem heutigen Wissen würde ich ihn vielleicht rufen. Damals, ja, also, stabile Seitenlage. Also ich wusste es nicht. Mein Ziehvater hat das gemacht. Stabile Seitenlage. Und dann ihr eine Decke und ein Kissen gegeben und mehr oder weniger drauf gehofft, dass sie noch mal aufwacht. – Was schon öfter der Fall war, war, dass die Polizei gekommen ist, weil sie zu laut gestritten haben. Aber so großartige medizinische Versorgung eigentlich nicht.
Hat deine Mutter Hilfe in Anspruch genommen?
Ja. Also sie hat Entgiftungen gemacht, mehrfach. Also es hat lange gedauert, aber sie hat es irgendwann selbst als Problem angesehen. Und sie hat so viel getrunken, dass sie körperlich abhängig war. Das heißt, so einfach aufhören wäre gefährlich gewesen. Ja, dann hat sie das mehrfach versucht. Und einmal hat sie dann auch eine Langzeitentwöhnung angeschlossen, über sechs Monate. Ja. Allerdings hat das nie was gebracht. Also sie hat es versucht, und sie hat auch kürzere Abstinenzphasen geschafft. Aber ich glaube, die längste Abstinenzphase waren vier Wochen nach der Langzeit bis zum ersten Rückfall. Und dann wurden die Abstände zwischen den Rückfällen immer kleiner. Ja. Also, Hilfe gesucht, ja. Aber erfolglos.
Konsumiert deine Mutter heute noch?
Sie hält es zumindest so im Zaum, dass es immer noch eine Verbesserung gegenüber früher ist. Also sie trinkt jetzt keine Spirituosen mehr. Was heißt, sie trinkt nicht mehr bis zur Besinnungslosigkeit. Also sie trinkt immer noch ziemlich viel, aber geht dann irgendwann schlafen, bevor sie so viel getrunken hat, dass sie wirklich umkippt. Sie trinkt nicht täglich, was auch schon mal eine Verbesserung im Vergleich zu manchen Phasen früher ist. Aber es ist immer noch relativ häufig und auch immer noch so, dass es Probleme mit sich bringt. Also ich wohne nicht mehr bei ihr. Aber Alkohol ist immer noch ein relativ großes Thema bei ihr und meinem Stiefvater.
Wie ist denn deine heutige persönliche Einstellung zu Suchtmitteln?
Also meine jetzige Einstellung ist, dass ein Suchtmittel keinem hilft. Ich denke, wenn man Alkohol trinken muss, um sich auf einer Party zu entspannen, dann ist es … Also klar, es ist eine schnelle Lösung, es ist eine einfache Lösung. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass man damit immer weniger zufrieden ist, als wenn man sich die Zeit nimmt, um zu schauen, warum man so verkrampft ist. Also klar, Suchtmittel sind einfach. Aber ich denke, wirklich helfen tut auch kontrollierter Konsum nicht. Also das ist meine jetzige Einstellung. Die habe ich noch nicht wirklich lange, weil, obwohl ich es vorgelebt bekommen habe, habe ich eine Zeit lang gedacht, ja, sie ist süchtig, mir passiert das nicht, ich weiß, was passieren kann. Mir passiert das nicht, ich bin verantwortungsvoll in meinem Konsum. Und, ja, also ich bin in die gleiche Falle getappt.
Ich habe viel auf Partys getrunken, zumindest am Anfang. Dann habe ich auch zu Hause mal gedacht, um einen Abend ausklingen zu lassen, um die Woche ausklingen zu lassen, trinke ich ein, zwei Bier, was eine Zeit lang auch wirklich nur ein, zwei Bier waren. Aber das hat sich dann so langsam eingeschlichen. Und als ich dann mal Schlafprobleme hatte, habe ich das nicht mit Alkohol, sondern mit Cannabis behandelt. Und das hat sich immer weiter gesteigert. Das Einzige, was ich mir von meiner Mutter mitgenommen hatte, war, dass sie es lange nicht als Problem angesehen hat. Und weil mir das damals so stark auffiel, dass da ein Problem ist, und sie keines gesehen hat, habe ich auch verinnerlicht, dass man das selbst als Letzter merkt, wenn man ein Problem hat, was paradoxerweise dafür gesorgt hat, dass ich früher gehandelt habe als die meisten, die in die Falle tappen. Ich habe es dann auch wieder raus geschafft. Also ich lebe jetzt aktuell abstinent.
Wie gestaltet sich deine Beziehung zu deiner Mutter heutzutage?
Es ist schwierig. Also ich bin ihr gegenüber relativ distanziert, weil einfach das ganze Zusammenleben so von Instabilität geprägt ist, dass irgendwo auch ein Stück Bindung verlorengeht. Ich hätte allerdings schon gerne mehr eine Bindung zu ihr, oder ich würde mich gerne besser mit ihr verstehen, weil durch das Älterwerden oder durch das Erwachsenwerden fängt man an, das ganze Bild zu sehen.
Sie hat sich nicht irgendwann hingesetzt und hat gesagt ja, es wäre schön, wenn mein Leben von einer Substanz kontrolliert wird, ich werde jetzt Alkoholiker, sondern sie ist durch Lebensumstände da reingeraten. Und wenn es dann einmal angefangen hat, dann ist Alkoholismus einfach eine Erkrankung. Also ich gehe verständnisvoller damit um. Ich verurteile weniger, aber ein Teil ist einfach zerstört. Also ein Teil fehlt, den man sich normalerweise im Großwerden mit der Mutter aufbaut. Das ist – also was mir jetzt am treffendsten erscheint – so der warme Anteil. Also das Sich-zusammen-Freuen, das Gelöst-Sein, das Zusammen-glücklich-Sein. Smalltalk oder so, oder alles, was mit einem Fremden funktionieren würde, Smalltalk, Dinge besprechen, das geht – aber so das, was die Wärme angeht, da fehlt einfach was. Also da macht mein Kopf einfach dicht.
Also, wie gesagt, durchs Erwachsenwerden habe ich auch eigentlich eher das Bedürfnis, an unserer Beziehung was zu ändern. Aber wenn es sich ändern lässt, dann nur mit viel Aufwand. Ich habe es versucht, und ich versuche es. Nur bisher ist es noch nicht wirklich von Erfolg gekrönt. Also ich weiß gar nicht, ob es überhaupt irgendwann aufholbar ist. Aber wenn es aufholbar ist, ist es immer noch verdammt viel.
Welche Gefühle verbindest du mit früher und heute?
Früher war relativ viel Angst da. Es war auch eine gewisse Einsamkeit da, weil … Also die Eltern sind ja die Hauptbezugspersonen. Und wenn man sich da nicht auf die verlassen kann, weil sie am Streiten sind, weil sie unfäh-…, so alkoholisiert sind, dass man keine Gespräche mit ihnen führen kann, dass sie impulsiv handeln – ja, dann geht einfach was verloren.
Man ist auf sich alleingestellt in einer Zeit, wo man eigentlich noch nicht bereit dafür ist. Also Einsamkeit belastet ja auch viele Erwachsene. Aber als Kind ist man ja wirklich auf die Bezugsperson angewiesen. Und ja, da war relativ wenig. Also, wenn man sich schon von seinen Eltern alleingelassen fühlt, …
Und heute fühle ich hauptsächlich ein gewisses Maß an Traurigkeit, wie das alles gelaufen ist, zum Teil auch Wut. Aber hauptsächlich eigentlich die Traurigkeit. Also … Ich bereue es, wie es gelaufen ist. Wobei Reue eigentlich … Ich wüsste nicht, wie ich das hätte anders machen können. Bei Reue hat man ja anders gehandelt, als man gerne gewollt hätte. Und ich wüsste jetzt nicht, wie ich da hätte anders handeln sollen.
Gibt es auch Stärken, die du aus dieser Zeit mitnimmst?
Eine gewisse Stärke ist jetzt was, was man nicht so vermuten würde: das ist, ehrlich zu sich selbst zu sein. Das hat zum einen, wie ich schon gesagt habe, mit dem Suchtmittel(konsum) zu tun. Ich habe gesehen, dass meine Mutter das Problem nicht erkannt hat. Da habe ich dann auch so zum ersten Mal gemerkt, man kann sich vieles schönreden, und man kann sich auch Verantwortung quasi kleinreden. Ja, das habe ich so mitgenommen, dass Ausreden einen quasi nicht weiterbringen, dass es nicht hilft, den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen: ich habe kein Problem, oder ich habe ein Problem, aber das ist mein Problem, und das betrifft andere nicht. Das, würde ich sagen, habe ich als Stärke mitgenommen, dass man da ehrlich ist. Vor allem zu sich selbst. Und klar, natürlich auch zum Umfeld.
Du bist jetzt erwachsen. Hast du den Eindruck, dass du selbständig, autonom leben kannst?
Ich lebe allein. Das heißt, ich denke schon, dass ich allein leben kann. Aber ich glaube, dass ich viel mehr Defizite habe als Gleichaltrige aus anderen Umfeldern. Es ist schwer, Verantwortung zu lernen, wenn das Umfeld zum einen hauptsächlich keine Verantwortung übernimmt, und vor allem, wenn das Umfeld instabil ist. Ich tue mich – glaube ich – schwerer als andere mit zum Beispiel Pflichten, weil wenn jeder am Streiten ist, dann fallen die Pflichten als Erstes unter den Tisch. Dann guckt keiner, ist das Zimmer jetzt gestaubsaugt oder nicht. Und ich glaube, dass das mich schon relativ nachhaltig ein bisschen zurückgeworfen hat. Also, um es in einem Satz zu sagen: ich kann allein leben, aber nicht so gut, wie man das eigentlich erwarten würde.
Ich meine damit auch noch andere Bereiche. Generell, was Erwachsene so können. Also pünktlich Zuzahlungen, zum Beispiel Krankenbehandlung oder … Medikamente bezahlt man ja in der Apotheke. Aber wenn Post kommt, sich darum zu kümmern. Oder Behördengänge, zum Beispiel in der Zeit, wo ich kurz arbeitslos war, da habe ich dann gemerkt, dass ich einfach nicht so erwachsen bin wie andere. Dass ich Pflichten nicht so gut übernehmen kann wie andere in meinem Alter. Was schon mit ziemlich viel Scham verbunden ist. Also ich glaube, wenn es anders gelaufen wäre, wäre ich ein besserer Erwachsener.
Fühlst du dich heute noch verantwortlich für deine Mutter?
Früher habe ich mich schon zum Teil verantwortlich gefühlt. Also, man hat einfach im Kopf, dass man da jetzt helfen muss. Man sieht auch nicht gerne zu, wie sich jemand aus der Familie selbst zugrunde richtet. So als Kind, was ich schon gesagt habe, das Bier ungenießbar zu machen. Aber auch, wenn man ein bisschen älter ist, zum Beispiel versuchen, den Haushalt zu machen. Also ich war relativ oft einkaufen.
Heute habe ich das Gefühl der Verantwortungsübernahme nicht mehr. Also ich weiß, dass es eine Erkrankung ist. Ich weiß auch, dass man da unterstützen kann. Aber ich weiß auch, wo die Grenze ist. Also ich weiß, dass es einfach nicht den magischen Handgriff gibt, den ich tätigen kann, und sie ist für immer von den Problemen befreit. Insofern fühle ich mich eigentlich nicht mehr verantwortlich. Was natürlich nicht heißt, dass ich nicht hilfsbereit bin. Also es gibt Sachen, die man durchaus machen kann; wenn jemand zum Beispiel trinkt, weil er vor Sorgen nichts mehr anderes sieht und das betäuben will, dann kann man natürlich schon helfen. Aber man kann das nicht alles auf seine Schultern laden und sagen: ich besiege jetzt den Alkoholismus für dich. Und das weiß ich. Also ich fühle mich jetzt nicht mehr verantwortlich für die Erkrankung.
Hast du das Gefühl, du müsstest den Kontakt zu deiner Mutter pflegen? Oder willst du vielleicht auch den Kontakt zu ihr pflegen?
Also ich will weiterhin mit ihr Kontakt haben. Das mit dem Verantwortungsgefühl, da bin ich so ein bisschen zwiegespalten, weil auf der einen Seite, ich bin natürlich nicht für meine Eltern verantwortlich. Auf der anderen Seite, man will den Menschen um sich rum ja schon irgendwas Gutes tun. Also, es ist sowohl mein Wunsch als auch ist mir klar, dass man, wenn man Kontakt hält, dann jemandem auch was Gutes tut.
Was denkst du, wie du geworden wärst ohne diese schwere Erkrankung deiner Mutter?
Die Frage habe ich mir schon oft gestellt. Es ist wirklich schwer zu sagen. Genauso wie man nicht sagen kann: meine Mutter ist an ihrer Erkrankung schuld, kann man auch nicht sagen, dass ich mit der Erkrankung in der Familie aufgewachsen bin, ist die Ursache aller meiner Probleme. Ja, also es ist schwierig zu sagen. Ich denke, ich wäre ein gutes Stück normaler geworden. Gerade so, was das Zwischenmenschliche angeht, wäre ich wahrscheinlich ein gutes Stück normaler geworden. Ja. Also es ist irgendwie gerade schwer, normal ein bisschen konkreter zu formulieren. Wahrscheinlich hätte ich, was so das Erwachsenwerden angeht, keine so großen Defizite.
Interview mit dem Sohn einer suchtkranken Mutter, 18 Jahre alt
Anmerkung:
P. besuchte die Gruppe für Jugendliche aus suchtbelasteten Familien in Lebach.
Er lebt seit seinem 4. Lebensjahr in einer Pflegefamilie, besucht aktuell eine Wohngruppe in Haßloch und verbringt die Wochenenden zu Hause in Saarlouis bei seiner Pflegefamilie.
Erfahrungen mit suchtkranken Elternteilen hat er zuvor gemacht.
Trotz seiner Volljährigkeit wirkt er mitunter noch etwas kindlich.
Interviewer: I
Befragte Person: P
I: Guten Tag P. Vielen Dank, dass es heute geklappt hat und du dir die Zeit für ein Interview genommen hast. Wir haben uns ja lange nicht gesehen.
Ich würde heute gerne mit dir über deine Erfahrungen und Erinnerungen besonders bzgl. deiner suchtkranken Mutter sprechen.
P: Kein Problem. Ich bin nur noch etwas müde.
I: Okay, sollen wir trotzdem anfangen?
P: Klar.
I : Weißt du noch, wann du bemerkt hast, dass deine Mutter süchtig ist, dass etwas nicht stimmt?
P: Weiß nicht mehr genau.
I: Wie war es damals für dich? An was erinnerst du dich noch?
P: An Alles.
I: An was genau?
P: Negative Sachen. Meine Mutter hat viel getrunken. Glaub ich.
I: An was bestimmtes? Ist dir etwas besonders in Erinnerung geblieben?
P: Schlechte Stimmung. Angst. Baden war immer schlimm. Ich konnte nichts machen.
I: Hat dir jemand geholfen?
P: Ja. Meine Pflegemutter.
Anmerkung:
P. erwähnte in der Vergangenheit gegenüber Jugendamt, Pflegemutter und in der Zusammenarbeit mit unserer Einrichtung, dass er in der Badewanne immer Angst hatte, seine Mutter oder ihr Partner würden ihm etwas tun. Er konnte oder wollte dies nicht präzisieren.
I: Wie ist deine heutige Einstellung zu Suchtmitteln und dein eigener Konsum?
P: Ich kiffe nicht mehr und trinke Alkohol höchstens am Wochenende. Ich qualme 5 – 10
Zigaretten am Tag. Wenn ich gestresst bin 1 Päckchen.
Am Wochenende, wenn ich zu Hause bin, schaue viel YouTube.
Während der Woche in der Wohngruppe bin ich ja weg von den Leuten hier
in Saarlouis.
I: Wie meinst du das?
P: Jetzt kann mir keiner mehr was vorschreiben. Ich mache eine Ausbildung und habe Geld.
Statt Drogen und Alkohol kaufe ich mir jetzt coole Klamotten. Das kann ich alles selbst
entscheiden.
I: Welche Gefühle verbindest du mit früher und welche mit heute? Was hat dir geholfen?
P: Früher negativ, heute positiver. Ich bin jetzt ruhiger.
Jacques (Anmerkung: Therapiehund) ist jetzt mein Freund.
Und ich habe jetzt Geld. Niemand kann mir etwas vorschreiben. Ich kann jetzt anderen Leuten
helfen.
I: Wie kannst du anderen Leuten helfen?
P: Ich kann ihnen Geld geben, wenn sie es brauchen oder Dinge kaufen.
I: Du bist ruhiger geworden? Woran merkst du das?
P: Was andere zu mir sagen, mich provozieren, geht mir meistens am A. vorbei.
I: Klappt das immer?
P: Meistens. Aber wenn es mir zu viel wird gehe ich. Sonst raste ich aus.
I: Und was machst du dann?
P: Ich rauche eine Zigarette oder kaufe mir etwas.
I: Okay. Ich danke dir für deine Zeit heute Morgen. Es freut mich, dass du dich besser fühlst als
früher.
Das Interview wird ohne deinen Namen veröffentlicht. Du müsstest mit später dazu noch eine
Einverständniserklärung unterschreiben.
P: Kein Problem.
Kernsätze:
„Angst. Ich konnte nichts machen.“
„Jetzt kann mir keiner mehr was vorschreiben.“
„Das kann ich alles selbst entscheiden.“
Junger Mann, 22 Jahre alt, mit heroinabhängigem Vater
Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass dein Vater Suchtmittel konsumiert?
Das erste Mal habe ich das so richtig rausgefunden bei dir sogar – du hast mir das gesagt. Ich habe erst gedacht, dass mein Vater nur Zigaretten raucht. Ich ging davon aus, dass das das einzige Suchtmittel ist, was er nimmt. Und ja, in der Wiesel-Gruppe wurde ich dann darüber aufgeklärt, dass er auch Drogen nimmt. In erster Linie wusste ich gar nicht, was das genau ist, was es mit einem macht und so weiter und so fort. Ja, dann nach und nach kamen so die Ursachen oder die, wie soll ich sagen, die Folgeerscheinungen.
Weißt du noch, was in dem Aufklärungsgespräch gesagt wurde?
Nicht mehr hundertprozentig. Ich weiß nur, dass gesagt wurde, dass mein Vater drogenabhängig ist oder dass er Drogen konsumiert. Und erst mal konnte ich damit gar nichts anfangen. Das gab erst mal ein ungutes Gefühl. Auch Unsicherheit. Ich wusste ja nicht genau, was das ist, was für Folgen und so weiter das hat. Deswegen so gemischte Gefühle, würde ich sagen.
Die Familie (Großfamilie väterlicherseits, C.O.) hat mir dann gesagt, was es ist, so nach und nach. Die wollten mich dann (auch) aufklären. Die wollten mich nicht im Dunkeln tappen lassen. Aber irgendwie was verändert hat es nicht. Weil es auch sehr theoretisch war.
Was ist dir an deinem Vater so aufgefallen? Wie hast du ihn erlebt?
Der war fast nie zu Hause. Der war meist immer im Urlaub, wie er gesagt hat. Er war dann im Gefängnis, hat von dort aus angerufen. Ja, keine Ahnung. War komisch für mich. War nicht so wie bei allen anderen Kindern, wo Familienleben so ein großes Ding ist, sondern ich war meist immer getrennt von der Familie, also von meinen Eltern, besser gesagt. – Ich habe ihm natürlich auch geglaubt. Ich habe gedacht, der ist jetzt irgendwie – keine Ahnung – arbeiten oder so was.
Hast du auch mit deinem Vater selbst über seine Drogenabhängigkeit gesprochen oder hat er mit dir darüber gesprochen?
Ja, im Laufe der Zeit haben wir mal drüber gesprochen. Wir habe auch übers Gefängnis gesprochen, wie es da drin abläuft, was er für Drogen konsumiert hat, schon auch, dass es scheiße ist, dass ich es auf jeden Fall nicht machen sollte. Er hat gesagt: siehst ja, was aus mir geworden ist und so. Also jetzt nicht genau zitiert, aber so ähnlich, das war so die Intention dahinter.
Was ist denn aus ihm geworden?
Ja, nicht so viel, würde ich sagen. Ist obdach-…, nein, nicht obdachlos, aber arbeitslos auf jeden Fall. Hat kein Geld am Ende des Monats. Keine Arbeit, keinen festen Wohnsitz. Das ist aus ihm geworden. Nicht viel.
Meine Oma und Tante – die waren auch schon mehr oder weniger nicht so begeistert von ihm. Und haben mir auf jeden Fall abgeraten, denselben Weg zu gehen. Das war die größte Sorge der Familie.
Gibt es Schlüsselmomente, an die du dich erinnerst und die mit dem Konsum zusammenhingen?
Ja, also, ich meine, so im Laufe der Zeit merkt man schon, wenn man erwachsen wird, wenn man so über die Eltern spricht, was für Wege die gehen; merkt man schon, dass er anders ist, weil er gar nicht arbeiten geht, nicht das Brot auf den Tisch bringt und so weiter. Da hat man schon gemerkt, dass es ein bisschen anders ist, oder dass die Situation einfach anders ist.
Hast du ihn denn auch schon so im Zustand des Konsumierens oder im Zustand des Konsums erlebt?
Nur einmal habe ich ihn betrunken gesehen. Das war an seinem 50. Geburtstag. Ich meine, das ist jetzt keine Schande. Aber sonst. Keine Ahnung, schwierig zu sagen. Ich weiß nicht. Es gibt Momente, da ist er überglücklich. Und es gibt auch Momente, da ist er komplett gereizt, egal, was man zu ihm sagt. Ob das die Folgen vom Konsum sind oder er dann in dem Moment drauf war oder so, kann ich nicht sagen. Keine Ahnung. Schwierig, dann mit ihm zu sprechen. Das ist auch häufig so. Ja.
Also, das Überglückliche beziehe ich eigentlich mehr darauf, dass er mal gut gelaunt ist, aber das kommt auch nicht so oft vor. Ja, also, es ist schwierig. Also es gibt da sicher auch Tage, da kann man sich mit ihm unterhalten, dann ist er nett, ist normal. Normal sage ich mal. Ja. Aber es gibt auch Tage, da – wie gesagt –, dann ist er komplett gereizt, man kann nicht mit ihm sprechen. Es ist unberechenbar.
Den Akt des Konsumierens habe ich nie gesehen. Aber ich habe schon Drogen gesehen. Also ich habe auch schon Heroin gesehen. Bei ihm zu Hause, ja. Diverse Drogen auch. Gras, Speed, Medikamente. Aber dass er es konsumiert, habe ich nie gesehen.
Gab es jemanden, mit dem du darüber gesprochen hast? Hast du ein Angebot wahrgenommen, wo du darüber sprechen konntest?
Ich habe hier viel drüber gesprochen, in der Caritas. Aber natürlich rede ich auch mit Freunden darüber. Mit denen konnte ich auch über alles sprechen. Das war eigentlich nie ein Problem, nie ein Thema. Ich habe mit sehr vielen Menschen darüber gesprochen. Das hat mir auch letztendlich viel geholfen, das zu verarbeiten, das Ganze einfach. Das war eine schwierige Zeit für mich einfach; als ich großgeworden bin, als ich erwachsen geworden bin, war das klar ein Thema für mich. Aber jetzt, heutzutage ist es nicht mehr so, dass es mich noch so belastet.
Ich habe einfach gesagt, was Sache ist, dass er heroinabhängig ist oder drogenabhängig ist, dass ich eine schwierige Zeit hatte. Die meisten Leute, also alle haben Verständnis gezeigt und dann meist auch von ihren Problemen gesprochen. Und ja, man hat sich gegenseitig einfach aufgebaut, war gegeneinander für sich da, oder man war einfach füreinander da.
An was kannst du dich im Angebot Wiesel noch erinnern?
Wir haben immer so Spiele gespielt. Das fand ich eigentlich immer cool. Wir haben über diverse Themen gesprochen, fand ich auch immer interessant eigentlich. Zur Aufklärung war das auf jeden Fall gut. Das wurde so spielerisch reingebracht. Das fand ich eigentlich persönlich immer cool. – Wir hatten auch mal über Gefühle gesprochen, da kann ich mich dran erinnern. Ich kannte die alle gar nicht. Dann hast du mir so ein bisschen erklärt, was das ist oder was das bedeutet und so. Ja – keine Ahnung –, war irgendwie neu für mich, damals.
Wer oder was hat dir noch geholfen?
Meine Cousine war auch für mich da, war lange für mich da. Mit der konnte ich über alles sprechen, auf jeden Fall. Meine Tante war für mich da. Die haben viel für mich gemacht. Aber eigentlich meine ganze Familie war für mich da. Außer – wie gesagt – mein Vater, weil der nie da war oder keine Zeit für mich hatte. Also der Rest, der war eigentlich immer da für mich. Haben mich immer unterstützt. Ich weiß das sehr zu schätzen heute.
Und deine Familie war ja auch wie so eine Art Gegenentwurf zu deinem Vater?
Ja. Im Grunde schon. Ja. Also mein Vater hätte denselben Weg gehen können. Habe ich auch selbst erfahren, der hatte auch ein eigenes Geschäft gehabt. Eine Pizzeria. Hat er gehabt. Ja. Aber die ist dann den Bach runtergegangen. Vertrauen hat gefehlt zwischen ihm und seinem Kollegen, seinem Mitgeschäftsmann, sage ich mal. Und dann ist das Ganze in die Brüche gegangen. Auch das Geld dumm ausgegeben, für den Konsum, Spielhalle und so weiter.
Hast du Ideen dazu, warum dein Vater so eine Entwicklung eingeschlagen hat?
Nein, ich weiß nicht. Ich weiß nicht, warum der so einen Weg eingeschlagen hat. Schwierig. Schwierig nachzuvollziehen eigentlich. Er hätte dasselbe Leben haben können wie meine Familie, also wie der Rest der Familie, sage ich mal. Ich weiß nicht, warum er den falschen Weg eingeschlagen hat. Falsche Freunde. Das war auf jeden Fall – denke ich mal – ein Kriterium dafür. Weil sie ihn dann zum Konsum verleitet haben. Ist alles eine Vermutung. Der spricht ja nicht drüber. Reflektieren tut er nicht. Fehler tut er nicht eingestehen, ist sehr egoistisch auch. Denkt nur an sich.
Wenn du so deine Gefühle gegenüber deinem Vater so schildern müsstest, was würde da so im Vordergrund stehen?
Es ist ein Auf und Ab. Also wenn er seine guten Tage hat, dann finde ich es gut, also kann ich gut mit ihm umgehen. Dann bin ich auch glücklich eigentlich. Aber wenn er so gereizte Tage hat, dann spreche ich ungern mit ihm, habe auch so – keine Ahnung – so einen Hass. Also nicht unbedingt, dass ich ihn hasse, aber so die Gefühle des Hasses kommen da auf, auf jeden Fall. Wir streiten dann dementsprechend oft, wenn er seine gereizten Tage hat. Es geht in den Streits eigentlich grundlegend nie so um das Drogenthema, sondern um Kleinigkeiten. Keine Ahnung. Ich kann jetzt mal das Beispiel von vor ein paar Monaten nehmen. Beim Umzug zum Beispiel, da haben wir zusammengearbeitet. Da habe ich ihm – keine Ahnung – gesagt, der soll das so und so machen. Da kam nur so eine patzige Antwort. Dann meinte er, du weißt es besser. Dann habe ich gesagt, dass er nicht so mit mir reden soll. Das ist so ein Hin und Her eigentlich. Das schaukelt sich dann hoch einfach.
Also er ist ja im Grunde auch ein herzlicher Mensch. Auf jeden Fall. Nur die Drogen haben ihn verdorben, komplett. Ich meine, also so gefühlstechnisch haben die ihn verdorben, seinen Charakter einfach kaputtgemacht.
Ich kann mich ja nur drauf beziehen, dass er früher, also was ich vom Umfeld, Freunden, Familie oder Bekannten von meinem Vater oder Freunden von meinem Vater erzählt bekommen habe, dass er ein guter Mensch war, dass er schlau war, gut in der Schule. Und dann dementsprechend falsche Wege eingeschlagen hat.
Und, ja, wie ich schon gesagt habe, mit der Gereiztheit und so, das ist jetzt keine gute Eigenschaft, würde ich mal behaupten. Ich meine, jeder Mensch kann mal gereizt sein, aber so … Ich weiß nicht, so dauerhaft würde ich nicht sagen. Und auch sich keine Hilfe suchen, mal sein Leben in den Griff bekommen. Das hat auch immer so seine Höhen und Tiefen.
Oder es gab auch mal vielleicht ein halbes Jahr, wo er gearbeitet hat, so Euro-Jobs oder so, wenigstens etwas gemacht hat. Aber jetzt macht er ja gar nichts mehr, ist er nur zu Hause. Früher hat sich dann um die Oma gekümmert. Und jetzt macht er gar nichts mehr. Ja, ist schade. Sein Leben – verschwendet einfach. Redet immer davon, wenn die Insolvenz durch ist, dass er dann wieder anfangen will, ein bisschen was zu machen. Aber in seinem Alter ist das schwierig. Ich glaube, er wird 60 dieses Jahr.
Wie war deine Reaktion auf die Abhängigkeitserkrankung deines Vaters?
Ja, ich war enttäuscht auf jeden Fall. Ich habe immer viel verglichen mit anderen Vätern oder wie das Leben bei anderen Kindern aussieht. Und die hatten alle – sage ich mal – ein gutes Leben. Und bei mir war das ganz anders. Bin auch im Heim aufgewachsen. Ja, ich war enttäuscht. Ich wäre lieber bei meiner Familie gewesen. Also Eltern, Mama und Papa.
Hat dein Vater Hilfe in Anspruch genommen?
Ja, der war diverse Male in der Klinik, in so einer Entzugsklinik oder in der Suchtberatung. Aber hat die alle abgebrochen eigentlich. Also hat sich auch psychologische Hilfe gesucht. Aber es hat nicht lange gedauert, dann hat er wieder abgebrochen. Ich habe das oft erst im Nachhinein mitbekommen. Aber ich war auf jeden Fall enttäuscht, dass er es nicht durchgezogen hat. – Ich glaube, er hatte keine Disziplin. Und ich denke einfach so, die ganzen Suchtmittel verhindern das, so diese Motivation und Disziplin zu haben. Ich denke, da wirken so ein bisschen die Glücksgefühle oder die ganzen Hormone in dir. Was das Ganze verhindert. Irgendwie, so dranzubleiben, was zu machen. Ich denke, du sitzt dann einfach da rum.
Welchen Weg hast du genommen? Hast Du selbst Alkohol und Drogen konsumiert?
Ja, also ich muss auch sagen, dass mein Weg nicht leicht war. Also ich habe auch schon mal diverse Drogen probiert oder Alkohol getrunken. Aber jetzt zurzeit bin ich auf einem guten Weg, arbeite, habe meine Freunde, meine Familie. Versuche, mir nebenbei was aufzubauen und so weiter. Ja, also, ich bin mit zwei Beinen im Leben fast, würde ich mal so behaupten. Ich würde mal sagen, dass ich mit beiden Beinen im Leben stehen würde, wenn ich meine Ausbildung schon hätte, wenn ich schon was Festes habe. Also ich habe ja immerhin mein Abitur mehr oder weniger schon geschafft. Und, ja, der nächste Step wäre auf jeden Fall die Ausbildung, damit ich was Festes in den Händen habe.
Wie ist denn deine heutige persönliche Einstellung zu Suchtmitteln?
Da halte ich Abstand von. Ich meine, ich bin jetzt auch kein unbeflecktes Blatt. Ich habe auch schon konsumiert. Aber ich habe gesehen, wie das die Motivation nimmt. Zum Beispiel die Schule musste ich wiederholen durch den Konsum, die 12. Klasse. Da war ich faul und hatte keine Disziplin, keine Motivation. Und daran habe ich eigentlich gesehen, dass es keine Option ist, und dass das nicht das Leben ist, was ich will. Ich will was erreichen im Leben und will vorankommen. Meine Familie predigt mir das auch. Und ich will die auch nicht enttäuschen. Die sagt, ich soll nicht so werden, ich soll die Finger davonlassen, ich soll nicht denselben Weg einschlagen.
Die regen sich auch oft über den Vater auf. Er macht nix. Er ist faul. Die Familie macht alles für ihn. Die bringen dem die Sachen rüber. Also die waschen die Sachen von ihm, sollen sie dem noch rüberbringen. Der ist zu faul, um sie sich selbst zu holen. Das macht er nicht. Essen will er von uns haben, immer, also von der Familie. Selbst einkaufen kann er nicht, weil er sein Geld verspielt oder sonst was damit macht. Kann nicht selbst für sich sorgen, ist immer abhängig von anderen Menschen. Und das regt die Familie einfach auf.
Und warum macht die Familie es dann?
Das ist eine gute Frage. Diverse Leute sagen auch zu denen, dass sie das mal nicht machen sollen. Aber die sehen in dem – weiß ich nicht – das arme Kind, dem geholfen werden muss. Also so war es bei der Oma auf jeden Fall. Und die machen eigentlich nur weiter.
Hast du auch diesen Impuls, ihn zu unterstützen, ihm zu helfen?
Also mir tut es leid natürlich, den so zu sehen. Aber ich helfe ihm damit nicht. Ich versuche, ihn anders zu unterstützen, mit ihm zu sprechen. Da sehe ich mehr Sinn drin. Also ich würde ihm helfen, klar, beim Umzug oder so. Aber auch nur, wenn er mir auch hilft. Das soll ein Geben und Nehmen bleiben und nicht nur Nehmen.
Was war denn deine Motivation zu konsumieren?
Also ich meine, so ein Drogenkonsum, der löst ja Gefühle oder Glücksgefühle in dir aus, macht dich glücklich für den Moment. Ja, das ist eigentlich schon ziemlich reizbar, finde ich. Also es macht ja auch Spaß. Wenn du jetzt auf einer Party bist oder so. Ja. Das reizt dann schon so. Auch so dieses Ungewisse vielleicht.
Würdest du denn sagen, dein Leben ist oder war bisher auch ein Kampf gegen die Suchtmittel?
Ja, würde ich schon sagen. Ich habe ja auch lange Zigaretten geraucht und Alkohol getrunken. Und dann hat das zum Drogenkonsum geführt. Aber seitdem ich einen Cut gemacht habe, eigentlich kein Kampf mehr. Also der Cut ist mir leichtgefallen, sage ich mal so. Ich habe es auch nicht bereut. Mir ist es noch nie besser gegangen eigentlich. Ich bin der besten Form meines Lebens zurzeit. Körperlich, mental. Mir geht es einfach gut.
Hast du den Eindruck, dass dich dein Aufwachsen mit einem suchtkranken Vater psychisch belastet hat?
Ja, also die Vergangenheit hat mich auf jeden Fall belastet. Ja, ich war lange Zeit depressiv, würde ich sagen. Aber wie gesagt, seit dem Cut ist eigentlich alles nur noch Berg hoch, nach oben gegangen. Der war jetzt vor sechs, sieben Monaten. Aber ich meine, davor hat es sich auch gebessert, mit dem Auslandsjahr. Einfach so ein bisschen Abstand von dem Ganzen zu nehmen, einfach mal zu reflektieren, mal mich selbst zu finden. Das hat mir so gefehlt. Ich war immer dasselbe gewohnt. War in meinem Trott gefangen. Und, ja, da war ich auf jeden Fall depressiv. Aber seitdem ich da irgendwie so einen Ausgang gefunden habe, ging es mir besser.
Wie ist die Beziehung zu deinem Vater heute?
Seitdem ich im Ausland war, in dieser Zeit war die Beziehung zu meinem Vater auf jeden Fall gut. Der hat mich täglich angerufen, gefragt, wie es mir geht, was ich mache, wie ich klarkomme und so. Ja. Also – keine Ahnung – vorher habe ich nicht so das Gefühl gehabt, dass er sich um mich kümmert oder sich um mich sorgt. Das hat mir schon ein bisschen Kraft gegeben, danach oder in der Zeit. Hat unsere Beziehung gestärkt, würde ich sagen.
Ich meine, als er im Urlaub war, dann hat er ja auch angerufen und gefragt, was ich mache und so. Aber, ich weiß nicht, da ging es ihm mehr um sich selbst. Also nicht in der Zeit, wo er im Urlaub war, sondern so danach. Als wir dann bei der Oma gelebt haben, da hatte ich jetzt nicht so das Gefühl, dass er sich um sich sorgt. Also nicht so konstant. Ist klar. Er hat mal geguckt, in mein Zimmer, hat gesagt: mach das, räum mal bisschen auf oder so was, du bist faul oder so. Aber ich hatte jetzt nicht das ständige Gefühl gehabt, dass er für mich da ist oder dass ich auf ihn zählen kann, wenn ich ihn brauche. So diese Zuverlässigkeit hat gefehlt.
Heutzutage sehen wir uns ab und zu mal. Also, ja, ich würde sagen, so drei-, vier-, fünfmal im Monat vielleicht. Mal mehr, mal weniger. Wir besuchen uns gegenseitig. Einfach mal so, um zu quatschen.
Fühlst du dich noch für ihn verantwortlich?
Nein. Ich weiß nicht, ich meine, er hat ja sich den Weg ausgesucht, ist den Weg gegangen. Und ich meine, ich gehe meinen Weg. Ich weiß, was er gemacht hat, dass er nicht mehr da rauskommen will und nicht rauskommt. Ich meine, ja, ich unterstütze ihn durch Gespräche oder sonstiges, aber jetzt, ja, ich weiß nicht … Schwierig zu sagen eigentlich. Ich gehe meinen Weg. Er war nicht für mich da. Also größtenteils nicht da. Und so mache ich es auch, denke ich.
Hast du aus der Zeit auch Stärken mitgenommen?
Ja, auf jeden Fall. Ist schwierig aufzuzählen. Die Rückmeldung, dass ich auf jeden Fall eine starke Person bin. Keine Ahnung, schwierig, jetzt irgendwie da konkret was zu sagen. So kritische Ereignisse zum Beispiel kann ich besser wegestecken als andere. Weiß nicht. Ist ja jetzt kein schönes Ereignis, was früher passiert ist. Das hat einfach die Gefühlslage so ein bisschen abgestumpft auch. Ich weiß nicht. Ich bin schon auch selbständiger als manch andere. Das stimmt auf jeden Fall. Aber auch das war ein schleppender Prozess, sage ich mal. Das muss man sich auch selbst – weiß ich nicht – antrainieren, sage ich mal.
Jetzt bin ich gerade mittendrin, sage ich mal, im Erwachsenwerden. Noch. Oder schon, ja, … Keine Ahnung. Ach so, was ich vorhabe? Ja, selber was aufbauen auf jeden Fall.
Interviewpartnerin weiblich, 59 Jahre alt, erwachsenes Kind eines alkoholkranken Vaters und ebenfalls – mittlerweile abstinent – von einer Alkoholabhängigkeit betroffen.
Das Suchtmittel ist Alkohol, den mein Vater konsumiert hat. Meine Mutter eigentlich auch am Anfang zu Partys und so was, die bis spät in die Nacht gefeiert wurden. Durch das Verhalten meines Vaters unter dem Alkoholeinfluss habe ich gemerkt, dass es zum Problem wurde. Er war dadurch ein Choleriker. Er hat im besoffenen Zustand meine Mutter und vorwiegend meine große Schwester angegriffen. Ich war die Jüngste in der Familie. Und dadurch, dass ich einen Draht zu meinem Vater hatte, habe ich mich dazwischen gestellt und versucht, die anderen zu schützen. Auch durch das Verhalten meiner Mutter, die alleine auch nicht mehr damit zurechtkam und sich bei einem Arzt Hilfe gesucht hat, habe ich es gemerkt. Leider auch in eine Richtung, die ebenfalls eine Suchtverlagerung hatte. Sie hat Beruhigungsmittel verschrieben bekommen und dann Valium genommen.
Ja. Also einmal habe ich meine Schwester schützen müssen. Mein Vater ist besoffen aus der Kneipe gekommen und ich weiß nicht, wieso und weshalb die zwei aneinandergeraten sind. Meine Schwester hatte so eine Angst vor ihm und ist aus dem Haus rausgelaufen. Wir haben damals in einem Industriegebiet gewohnt und da ist meine Schwester im Nachthemd ums Haus gelaufen. Alles in allem war das ungefähr ein Kilometer. Sie war dann eher als mein Vater wieder zurück. Ich hatte ein Jugendzimmer und mein Bett konnte man hochklappen, um das Bettzeug reinzumachen und da habe ich dann meine Schwester reingelegt. Ich habe mich selbst obendrauf gelegt und mich schlafend gestellt. Wie gesagt, das war dann auch wirklich so, dass mein Vater zurückkam und er dann in mein Zimmer geguckt hat. Ich werde nie vergessen, welches Herzrasen ich da hatte … dass er eventuell merkt, dass ich gar nicht am Schlafen war. Er hat dann gesehen, dass ich alleine im Bett lag und dann ist er weggegangen. Wie er dann eingeschlafen war, hat meine Mutter glaube ich noch Bescheid gegeben und da konnte ich meine Schwester wieder aus dem Bettkasten befreien.
Was denken Sie was passiert wäre, wenn er Ihre Schwester gesehen hätte?
Er hätte sie totgeschlagen. Da bin ich zu hundert Prozent sicher.
Dann habe ich noch eine andere Schlüsselsituation. Er hat sehr viel Bier und Schnaps konsumiert. Je mehr Schnaps er hatte, desto wilder wurde die Fahrt nachher zuhause. Ich stamme aus einer selbstständigen Familie. Wir sind damals in ein Industriegebiet umgezogen und dieses Haus war noch ein ganz altes Haus, ich glaube Baujahr 56. Mein Vater hat das dann mit allem Drum und Dran, auch außen, renoviert. Ich werde nie vergessen, da hatten wir unser Haus komplett eingerüstet und er kam nachts wieder und wollte ins Haus und war nicht mehr in der Lage, die Tür mit einem Schlüssel aufzuschließen. Er meinte, meine Mutter hätte ihn ausgesperrt. Ich weiß nicht, ob sie so ein Gerüst kennen. Das wird immer direkt am Gebäude verankert mit ganz dicken Dübeln, damit es fest am Haus ist. Er hat es mit bloßen Händen geschafft, das komplette Gerüst vom Haus abzureißen. Das hat gescheppert, als würde die Welt untergehen. Das kann man sich gar nicht vorstellen mitten in der Nacht. Das hatte sehr viel mit Angst zu tun. Die Kinderzeit.
War das täglicher Konsum bei ihrem Vater?
Ja, das war systematisch. Ich habe auch im Büro mitgearbeitet. Wenn ich dann die Post fertig gemacht habe um 17 Uhr, dann waren die Leute auch alle wieder zurück von der Baustelle. Die Post lag dann an einem bestimmten Ort und dann hat er sich die Post gekrallt und ist dann zur Post gefahren und dann wussten wir schon, dass er anschließend in die Kneipe geht. Der ganze Witz war – das hat sich dann erst später so ergeben – nach außen hin mussten wir so tun, als wären wir die beste Familie. Dadurch habe ich mich eigentlich auch im Kindesalter so ein Stück weit zu so einem Clown entwickelt. Ich habe viele Witze erzählt, habe Stunden lang Menschen unterhalten können. Das ist aber dann danach… das könnte ich heute gar nicht mehr. So viele Menschen irgendwie so zu belustigen. Das war scheinbar eine Bewältigungsstrategie. Und vor allem damit das ja nicht auffiel nach außen hin, was da los ist. Irgendwann, das ist aber schon ewig her, hat sich meine Mutter mal Jemandem anvertraut und hat mal so ein bisschen durchblicken lassen, dass das Zuhause alles gar nicht so lustig ist. Derjenige hat nämlich mit meinem Vater immer getrunken. Der hat dann gesagt, es liegt nicht in seiner Vorstellung, dass ihr Mann, mein Vater, sich so drehen kann. Er sei sonst der beste Kerl in der Kneipe. Da könnte man nie darauf schließen, dass dann zuhause so etwas abgeht. Dem hat sie sich anvertraut, da waren wir schon aus dem Haus. Es hat lange Zeit gedauert, bis sie irgendwann mal was gesagt hat.
Nein, es hieß immer nur „Halt den Mund, sonst geht Papa wieder auf die Barrikaden“. Früher haben wir gesagt hoch wie ein HB-Männchen. Da gabs ja mal die Werbung.
Probleme wurden gar nicht besprochen. Selbst meine Mutter war nicht in der Lage, Probleme zu besprechen. Ich habe zwei, drei Sachen versucht mit ihr zu besprechen. Die eine wurde abgebügelt, indem sie sagte „du siehst ja, ich bin heute noch bei Papa“. Für die gab es früher keine Probleme. Es wurde einfach weiter gemacht, weiter gemacht, weiter gemacht.
Das war früher – vor allem mit dem Alkohol – wahrscheinlich nicht so wirklich Thema. Das kommt heute immer mehr und selbst jetzt ist es immer noch so, dass es ungern angesprochen wird. Alkohol gehörte früher sogar noch mehr dazu, zum Feierabend.
Genau, ein Feierabendbierchen.
Das mit dem Gerüst war die zweite schlimme Aktion. Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen die dritte wirklich erzählen soll.
Wie Sie möchten.
Also. Wir hatten zuhause auch immer Tiere, also Hunde. Einmal hatten wir einen Schäferhund, der draußen seinen Zwinger hatte und dort lebte. Wir hatten noch einen kleinen freilaufenden Dackel. Irgendwann bin ich nachts wachgeworden und da hat der Dackel so unwahrscheinlich geschrien. Ich habe mich gefragt, was da los ist. Ich weiß nicht mehr, ob ich aufgestanden bin und meine Mutter mich zurück ins Bett schickte. Irgendwann Tage später habe ich meine Mutter gefragt, was da passiert ist und warum der Dackel so geschrien, gejammert hat. Da hat sie mir erzählt, dass mein Vater den Dackel missbraucht hat.
Da habe ich gedacht, in welchem Film bin ich hier nur gelandet. Vor allen Dingen war das für mich auch so unmöglich, weil ich ja dadurch, dass bei uns solche Umstände dann geherrscht haben … ich weiß nicht warum, ich kann Ihnen das nicht sagen … vielleicht hat es damit zu tun, dass meine Eltern sich ständig gestritten haben. Es ging immer wieder nur um Alkohol. „Du bist Alkoholiker!“ und „sag noch einmal ich bin Alkoholiker! Nie in meinem Leben! Ich kann doch mal ein Feierabendbier trinken!“ und was weiß ich nicht. Auf jeden Fall habe ich immer gesagt, dass ich nie so leben und nie so eine Beziehung in meinem Leben führen möchte, wie es meine Eltern getan haben. Ich finde, dann braucht man nicht zu heiraten. Das ist für mich keine Voraussetzung für eine Ehe. Das habe ich mir immer geschworen. Wenn, dann möchte ich meinen Partner respektieren, ich möchte ihn lieben. Da soll nie was drankommen. Ich habe selbst zwei Ehen in den Sand gesetzt. Sei es durch mein Problem oder vielleicht auch, dass meine Männer problematisch waren. Beim dritten Mal hat es funktioniert. Wir sind zwölf Jahre verheiratet und insgesamt 18 Jahre zusammen.
Meine Eltern haben uns nicht wahrgenommen. Das Gefühl hatte ich manchmal. Meine Mutter hat mich irgendwann von ihrem Schoß gekickt und gesagt, dass ich das Schmusen nicht mehr brauche. Ich sei ja schon so und so alt. Mein Vater hatte sowieso andere Dinge zu tun. Entweder bin ich ein Mensch, der unwahrscheinlich viel Liebe braucht oder es kam so wegen der Umstände, die ich erlebt habe. Deshalb fehlte mir etwas in meiner Familie. Mein Onkel hat das für sich ausgenutzt. Er hat mich dann missbraucht. Als ich das dann von dem Hund gehört habe, dann war das für mich eine solche Horrorvorstellung. All das, ich weiß nicht, das möchte ich nicht wieder erleben und ich würde das auch keinem Menschen gönnen oder wollen, dass weitere Kinder unter solchen Umständen aufwachsen. Damit werden die Zeichen für später gelegt. Welchen Verlauf das Leben des noch so jungen Kindes dann nimmt. Das macht viel kaputt.
Ich werde nie vergessen, dass meine Mutter einmal meine Schwester und mich im Wagen drin hatte. Mit Bettzeug und allem Drum und Dran. Ich war richtig froh, dass es hier weg geht. Jetzt endlich setzt sie dem eine Ende. Sie muss dann in den Rückspiegel geguckt und meinen Vater in der Tür stehen gesehen haben. Dann ist sie ausgestiegen und hat gesagt, dass sie noch eben kurz mit Papa sprechen muss. Da habe ich schon geahnt, dass, wenn sie wieder kommt, dann fahren wir nicht. Genau so war es. Sie kam und wir haben alle Sachen wieder ausgepackt. Dann ging es weiter.
Das war so ein Moment, in dem Ihre Mutter sagte, dass es reicht. Und Sie hatten das Gefühl von Erleichterung?
Ja, das war ein Gefühl der Erleichterung. Als Kind habe ich immer unter Druck gestanden. Ich kann die Kinder verstehen, die heute oftmals so rebellisch sind. Wenn ich über meine eigene Kindheit nachdenke, die ist ja nicht jeden Tag und jede Sekunde präsent. Aber da ist mit klar, warum manche Kinder so ausrasten. Das ist ein ständiger Druck, unter dem man lebt. Der braucht ja ein Ventil, wo er abgelassen werden kann. Da kann ich mir schon vorstellen, dass die Kinder auffällig werden. Ich habe versucht, es meinem Klassenlehrer zu sagen, das war schon in der Hauptschule. In der Grundschule hatte ich diese Idee, mich Jemandem anzuvertrauen, nicht. Bei diesem hatte ich das einzige Mal das Gefühl, dass ich zu ihm hingehe und mich ihm anvertraue. Ich war so kurz davor. Habe dann den Arsch eingekniffen, weil ich einfach Schiss hatte. Dass er die Situation nicht wirklich erkennt und ich zurück in diese Familie muss. Das wäre mein Ende gewesen. Dann hätte ich keine Vorzüge, nichts mehr gehabt. Wenn ich dann überhaupt lebend da rausgekommen wäre.
Sie hätten dann das Familiengeheimnis nach außen getragen und es besteht dann die Gefahr, dass derjenige etwas sagt. Da hatten Sie Angst vor?
Ja. Auch, dass er das als normal sieht. Es war normal, dass man ein Feierabendbier trinken geht. Wenn der Lehrer das genau so gesehen hätte und das nicht so schlimm gefunden hätte. Dass andere das auch machen. Dann hätte ich ganz normal wieder in die Familie zurückgemusst und wenn der dann den Mund nicht gehalten hätte, dann wäre es aber eine heiße Herdplatte für mich geworden.
Wenn Sie das so erzählen, dann fühle ich auch den Druck, den sie eben erwähnt haben. Dann die kurze Erleichterung als Ihre Mutter die Sachen gepackt hat und man dachte, es gibt doch eine Wende in der Geschichte. Dann war diese Lösung für Ihre Mutter in dem Moment auch nicht möglich.
Ja, genau. 2005 habe ich noch getrunken, wenn ich diese psychischen Probleme hatte. Da kam meine Mutter zu Besuch und ich glaube, da hatte ich schon ein Glas Wein getrunken und war dementsprechend auch mutig. Mir ging es sowieso psychisch schlecht und dann habe ich ihr das mal gesagt und meinte, wie ich das empfunden habe und dass ich ihr das nie verzeihen kann und werde. Dass sie damals wieder ausgestiegen ist und wir anschließend nicht weggefahren sind. Ich habe sie gefragt, warum sie das gemacht hat. Sie hat nur gesagt, dass sie dann alleine mit zwei Kindern gewesen wäre und hätte nicht gewusst, wie sie uns hätte ernähren sollen. Das war ihre Angst dahinter. Ich denke auch, dass es ein Stück das Ansehen war bei uns im Ort. Durch die Selbstständigkeit. Dann heißt es, dass sie ihren Mann verlassen hat. Sie hat noch dazu gesagt, dass Papa sich sonst kaputt säuft.
Heute weiß ich seit 2017, dass mein Vater ein Geheimnis mit ins Grab genommen hat. Ich habe meine Schwester ein Jahr vor seinem Tod, als es ihm schon schlecht ging, gebeten, dass sie ihm sagen soll, dass er ihr alles anvertrauen kann. Das habe ich in der Tod- und Sterbebegleitung gelernt. Dass dadurch das Sterben einfacher ist und man das hierlassen kann. Mein Vater meinte dann zu ihr, dass er so viel sagen könnte, aber er darf nicht. Es war seine Entscheidung das mitzunehmen. Ob es mir dadurch heute besser oder schlechter geht, kann man nicht beurteilen.
Er hat das mitbekommen, dass ich seit 2006 nichts Alkoholisches mehr zu mir genommen habe. Auch keine Herrencreme oder Mon Cherie. Das ist ihm ja aufgefallen. Aber mein Vater hat sich scheinbar auf die Zunge gebissen, anstatt sonst was zu sagen. Er hat mich nie drauf angesprochen, warum ich nichts mehr trinke oder keine Pralinen esse.
Hätten Sie es sich gewünscht, dass er es gemacht hätte?
Ja. Vielleicht wäre auch dadurch mal ein Gespräch entstanden.
Man sagt eigentlich, Alkoholiker ist Alkoholiker. Aber für meine Begriffe gibt es Unterschiede. Auf jeden Fall war es bei ihm so, dass er tagtäglich getrunken hat. Dadurch hat sein Körper unwahrscheinlich gelitten. Ich kann Ihnen die Krankheiten gar nicht alle nennen, die sich entwickelt haben. Am besten würde ich sagen, was noch in Ordnung war an Organen. Er benötigte dann bei manchen alltäglichen Dingen Hilfe. Wenn ich dann da war und er ins Bett ging, dann habe ich mich mal zu ihm gelegt. Dann habe ich ihm geholfen seine Schlafsachen anzuziehen.
Weil ich auch denselben Beruf erlernt habe wie er, ja, da war schon immer irgendwie so ein Band gewesen, von Kindesbeinen an. Weil ich da schon mit Hölzchen und Hämmerchen und so was gespielt habe, anstatt mit Puppen. Ich sollte eigentlich ein Junge werden. Aber letztendlich natürlich ein sportliches Mädchen. Wo manch einer sagt: „burschikos drauf“. Ich werde nie vergessen, als ich ihn zu Bett gebracht habe und mich auf die andere Seite gelegt und noch ein bisschen mit ihm gesprochen habe. Er hat mich angeschaut mit so vielen Fragezeichen in den Augen, dass sich mich genötigt sah, ihn zu fragen: „Papa, möchtest du mir was erzählen?“. Dann war Ruhe, ein kurzer Moment der Überlegung. Dann sagte er: nein. Bis zum Schluss hat er geschwiegen.
Das eigene Ich zu entwickeln, das war unter diesen Voraussetzungen nicht möglich. Bei der Auffrischung, die ich zuletzt gemacht habe, habe ich gemerkt, dass ich zu dieser Entwicklung keine Chance erhalten habe. Dass ich jetzt nach der Auffrischung überhaupt mal wieder merke, dass ich das bin. Wenn ich verschiedene Dinge mache, die ich vorher nicht gemacht habe. Verbote oder Unterdrückungen von damals können sich bis ins hohe Alter durchziehen. Das kann was mit einem machen. Jetzt, wo ich sage, was ich möchte und was ich nicht möchte und ich merke, dass es nichts Schlimmes ist, das zu sagen. Da passiert nichts Großes. Wer das nicht respektieren kann, da kann ich nichts dafür. Immer kamen alle anderen zuerst, bevor ich selbst mal dran bin.
Mein Mann und ich haben uns zu Weihnachten nichts geschenkt. Wir sind umgezogen letztes Jahr und wir sind nicht glücklich dort, wo wir hingezogen sind. Mich holt vor allem die alte Geschichte ein. Wenn ich es richtig mitbekommen habe, dann scheint ein Alkoholproblem seitens des Vermieters vorzuliegen. Es gibt ständig Streit. Meistens nachts. Vor zwei Wochen ist oben Jemand umgefallen, dann liege ich im Bett und warte, ob noch der Krankenwagen kommt. Das kenne ich auch, dass mein Vater umgefallen ist. Mit dem Kopf an die Heizung und er hatte dann eine Platzwunde. Er wollte dann keine Hilfe. Alles war voll Blut, da konnte man nichts mehr machen. Es musste genäht werden. Ja, dass die alte Geschichte einen da nochmal so einholt. Ich hatte mir etwas anderes gewünscht.
Die Menschen heute, ich denke, das ist auch ein Stück aus Corona entstanden, gehen sich nur noch aus dem Weg. Ich erlebe nicht viel anderes, als dass man gemieden wird. Das tut mir auch nicht gut. Meine Mutter konnte das auch sehr gut. Wenn ich nicht funktioniert habe, wie sie sich das vorgestellt hat. Das werde ich nie vergessen. Ich habe als Kind mal am Jeansbein meiner Mutter gehangen. Mit beiden Beinen um den Fuß herum und habe mich oben am Jeansstoff festgehalten. Sie hat mich dann so genommen und durch die ganze Küche geschleift. Ich wollte nur, dass sie aufhört, mich zu ignorieren. Das habe ich noch nie erlebt und würde das mit einem Kind nie machen. Ich würde das Kind auf den Arm nehmen und würde mich hinsetzen und mit ihm reden. Aber einen Menschen nicht so ignorieren. Jetzt ist die Menschheit schon in diese Richtung gegangen. Ich verstehe das nicht. Wir sind alle nur einmal auf dieser Welt und haben nur eine Chance, das nicht volle Lotte zu verkacken. Was gibt es denn da Besseres, als dass man den Menschen annimmt, ein Lächeln gibt. Das kommt auch zurück.
Durch diese Geschichte, dass es mir letztes Jahr so schlecht ging, habe ich auch erfahren, dass ich mich wieder einer Gruppe anschließen muss. Die Alkoholiker an sich sind sowieso ein besonderes Völkchen. Man kann fremd irgendwohin kommen und man hat das Gefühl, man wird sich schon viel eher kennen.
Ja. Das ist der Knopf der Hilflosigkeit, was auch mit durch den Missbrauch entstanden ist. Weil mir ja gesagt wurde, dass, wenn ich Mama oder Papa was davon erzählen würde, die mir das sowieso erstens nicht glauben und dann würde meiner Mama oder meinem Papa was passieren. So wurde ich unter Druck gesetzt da nichts zu sagen. Das ist ein Knopf der Hilflosigkeit, ein Kopf, der mit Druck besetzt ist. Das sind diese Situationen, wo ich sage, da kann man heute noch diesen Knopf drücken. Angst, ganz wichtig. Sobald diese Schiene bedient wird, spüre ich, dass da wieder dieses Gefühl ist. Dann habe ich ganz schwer daran zu tun. Jetzt geht es jedenfalls. Schwer, aber es geht nach der Auffrischung letztes Jahr. Mich da wieder rauszuholen und trotzdem freudig weiterzuleben. Vor der Auffrischung war es so, dass alle Leute, die diese Schiene bedient haben, dem habe ich quasi stattgegeben. Mein Selbstbewusstsein hat sich so noch tiefer als im Keller entwickelt. Dadurch war ich nur noch trocken und habe nicht mehr leben können. Das habe ich jetzt erkannt. Dass dieses Problem mich so lange, wie ich lebe, begleiten wird. Ich muss immer höllisch aufpassen und selbst sagen: „du bist es wert“. Die anderen können das nicht wissen, dass sie gerade diesen Knopf drücken. Das gelingt mir jetzt. Ich kann Ihnen auch sagen, warum mir das jetzt so gelingt.
Gerne.
Weil mein Therapeut richtig gemein zu mir war.
Wir haben jeden Tag Gruppe gehabt. Man wohnt in einer Gruppe mit 12 Menschen zusammen über die Zeit, wo man da ist. Bei mir waren es elfeinhalb Wochen. Bei den anderen, die das erste Mal da sind, sind es meistens 16 Wochen. Dadurch lernt man sich ja kennen. In der Gruppe tauchen ungewollt alle Schwierigkeiten auf und es wurde darüber gesprochen. Ich kann Ihnen heute nicht mehr sagen, welches Thema es war und worüber wir genau gesprochen haben. Ich weiß heute nur noch, dass sich mein Therapeut ganz kurz mit einem Blick an mich gewandt hat und zur mir sagte: „und du kommt mir jetzt nicht wieder mit deinem ich-bin-missbraucht-worden“.
Ich habe denen, zu denen ich ein bisschen mehr Verhältnis habe, das erzählt und zum Beispiel meine Eingliederungshelfern hat gefragt, was das für ein Arschloch war.
Aber mein Therapeut war kein Arschloch. Er ist sehr gut in seinem Tun und in dem, was er gelernt hat. Das hat mich dann wiederum in diesen Verhaltensmustern bestätigt. Ich habe mich zurückgezogen, nichts mehr mit den anderen unternommen. Ich war schmerzvoll, traurig, wusste nichts damit anzufangen. Nach einer Woche habe ich mich dann wieder rausgekämpft und gedacht, dass es für irgendwas gut war. Erst zuhause ist der Groschen gefallen. Ich hatte natürlich vor der Auffrischung arge Schwierigkeiten mit meinem Mann. Weil ich viele Fehler gemacht habe, aber auch von seiner Seite Dinge dazukamen, die mir nicht gutgetan haben. Ich habe mich nie abgegrenzt und habe gesagt, dass ich das nicht will. Durch die Aktion meines Therapeuten kann mir jeder sagen, was er will. Das landet nicht mehr im Herzen. Das war mein Problem. Ich war nur noch nah am Wasser gebaut. Ich wusste überhaupt nicht mehr rauszukommen. Er hat das geschafft mit dieser Aussage. Er hat das auch später in einem Einzeltermin nochmal gesagt. Dass ihm das klar ist, was mit mir geschehen ist. Aber, dass ich damit heute im Alter besser mit umgehen kann. Das gehörte mit dazu, diese Irritation. Er hat mich auch einmal in den Arm genommen und gesagt „das, was du hier gearbeitet hast, das geht auf keine Kuhhaut“ und „lass dich mal drücken“. Das war das Beste, was ich machen konnte. Die Dinge von früher bleiben und man muss auch als Erwachsener höllisch aufpassen, dass man da nicht ständig andockt. Das ist ungewollt. Das ist das Schlimme. Man muss sich immer wieder dessen bewusstwerden, dass das mit dem Jetzt nichts zu tun hat. Dessen darf ich nie müde werden. Warum müssen weiterhin Kinder unter solchen Umständen aufwachsen und wie gesagt, sie haben keine Möglichkeit einzugreifen. Weil Kinder sind Kinder. Sie sind klein, sie dürfen nicht aufmüpfig sein. Das hat sich heutzutage zwar ein bisschen verändert, aber ich weiß nicht, wie es wäre in einer solchen Situation. Ich glaube nicht, dass sie damit nach außen kommen. Auch heute wird derselbe Druck von einem Süchtigen an die Kinder weitergegeben und wehe, sie sagen irgendwas. Das ist schlimm.
Eine Stärke habe ich mitgenommen – das habe ich meinem Vater zu verdanken – und zwar dranzubleiben. Jeder bewundert es, mit was für einer Konsequenz ich an Dingen dranbleiben kann. Das überträgt sich nicht nur in den Bereich dieses Themas, über das wir reden, sondern auch in anderen Dingen. Wenigstens bin ich in der Lage zu sagen, da gibt es auch etwas Positives, das ich mitgenommen habe.
Sie haben auch gemerkt, dass Sie die Auffrischung wieder brauchen. Haben sich das eingestanden. Das kann, glaube ich, auch nicht jeder.
Vor allem auch nicht bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Es sind auch zwei, drei aus der Gruppe mindestens rückfällig gewesen. Auch Menschen, die schon vier Mal einen Rückfall hatten. Darüber bin ich froh, weil ich glaube, dass ich es auch nicht umsonst ohne Rückfall bisher geschafft habe. Das hat auch was mit meiner Konsequenz zu tun, dass ich immer dranbleibe.
Ja, was habe ich sonst noch mitgenommen?
Ich bin froh, dass ich ein liebender Mensch geworden bin. Ich werde eine Situation nicht vergessen. Das kommt mir grade. Da waren wir in einer größeren Stadt gewesen. Mein Vater und ich, weil wir zu einem Kunden waren. Da hat ein Obdachloser gesessen mit einer Decke um und einem Schälchen und der hat mir so richtig leidgetan. Da wollte ich eigentlich was reimschmeißen oder habe es gemacht oder habe meinen Vater gebeten, dass er was reinschmeißen soll. Auf jeden Fall hat er sich total abfällig über diesen Obdachlosen ausgelassen. Dann habe ich gedacht, dass ich so nie werden möchte. Hat er sich überhaupt mal gefragt, wie dieser Obdachlose überhaupt bis dahin gekommen ist? Das weiß man doch gar nicht. Was meinen Sie, wenn meine Mutter ihn damals verlassen hätte. Da hätte der genauso werden können. Das wird nicht meine Art sein. Das heißt, ich habe auch über negative Dinge – das kann ich auch jetzt erst so sehen – für mich etwas Positives erschlossen. Ich denke, das ist irgendwie ein Umwandeln. Ich werde das anders handhaben. Sie glauben nicht, wie sehr ich mir Kinder gewünscht habe. Da hätte ich das auch gerne anders gemacht. Diese Chance habe ich leider nie bekommen. Aber vielleicht auch nicht so schlecht. Vielleicht hätte ich es gar nicht so gut machen können, wie ich es vorgehabt hätte. Mit meiner eigenen Erkrankung. Mit dem Alkohol und der Therapie. Das hätte mit Sicherheit mit meinen eigenen Kindern was gemacht.
Danke schön, für Ihre Offenheit und dass Sie das erzählt haben. Es gibt bestimmt noch viel mehr zu erzählen. Da waren auch bei mir ganz viele Gefühle anwesend und viele Fragen, die aufgetaucht sind und die man in einem solchen Interview von einer Stunde gar nicht einfangen kann. Aber ich glaube, dass das schon so ganz, ganz wichtig war. Wenn das Jemand liest, darüber nachdenkt, egal, in welcher Situation und welcher Rolle. Vielen Dank dafür.
Das würde ich mir wünschen. Dass es Menschen lesen, die sich dadurch ermutigt sehen, sich Hilfe zu holen. Das ist etwas, das ich nur bestätigen kann. Mit Hilfe geht es 100 mal besser als ohne Hilfe. Ohne Hilfe führt es in ein Desaster.
Tochter aus suchtbelasteter Familie, 29 Jahre alt
I: Welches Suchtmittel war denn während deines Aufwachsens kontinuierlich vorhanden?
IP: Alkohol.
I: Andere Suchtmittel in irgendeiner Weise?
IP: Nikotin, also Zigaretten.
I: Okay. Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass eines von deinen Elternteilen Alkohol konsumiert?
IP: Das ist eine bisschen schwer zu sagen, weil die Erinnerungen daran verschwommen sind, aber ich würde sagen als früh Jugendliche, so mit 12 oder 13 ist es einem bewusst geworden, warum der Papa dann mal komisch war.
I: Und wie genau hast du das gemerkt?
IP: Wein war sein bevorzugtes Getränk und die Flaschen hat man halt irgendwann gefunden. Das war schon komisch, weil meine Eltern gemeinsam nur am Wochenende Wein getrunken haben. Und dann waren aber ständig irgendwo leere Flaschen, die man gefunden hat und dann hat das zu diesem komischen Verhalten abends gepasst.
I: Okay, und dieses komische Verhalten, wann hast du das zum ersten Mal bemerkt? Also unabhängig von den Flaschen und, dass du gedacht hast: „Okay, also irgendwas ist seltsam mit dem Papa.“
IP: Ich würde sagen ungefähr im gleichen Alter, also so mit 12.
I: Und wie war das für dich? Erinnerst du dich an deine Gedanken zu dieser Zeit?
IP: Ich glaube anfangs war ich verwirrt, weil sich der Konsum bei meinem Papa in Aggressivität geäußert hat. Und in Überempfindlichkeit oder generell einfach Emotionalität, was mich sehr stark verwirrt hat, weil ich nicht verstanden habe, warum er anders reagiert hat, als wenn wir mittags über bestimmte Themen gesprochen haben. Irgendwann als dann klar war, warum er anders war, war ich wütend.
I: Hat jemand mit dir darüber gesprochen?
IP: Nein.
I: Also warst du alleine mit der Erkenntnis und der Situation?
IP: Ja.
I: Erinnerst du dich an einen Schlüsselmoment, der mit dem Konsum deines Vaters zusammenhängt? Also irgendwelche Ereignisse bei denen du sagst, die sind mir vor allem im Erinnerung geblieben zusammenhängend mit dem Konsum?
IP: Ja, ein paar. Ich würde ich sagen immer, wenn sich eine Steigerung gezeigt hat: Von „Ist gar nicht so schlimm“ zu „Okay, es ist doch ein bisschen schlimm“ zu „Okay, wenn es so weitergeht, kann ich nie wieder mit ihm reden“. Aber ich möchte nicht genau beschreiben, was das für Schlüsselmomente waren.
I: Gibt es jemanden mit dem du über den Konsum gesprochen hast?
IP: Ja, mit meiner Tante und mit meinem Onkel. Also in der Familie und später auch mit meiner Mutter und mit meiner besten Freundin.
I: Aber hast du auch irgendein Angebot wahrgenommen, etwas Offizielles, wo du hingehen konntest und da Hilfe gefunden hast?
IP: Nein.
I: Also eher im Familien- und Freundeskreis?
IP: Ja.
I: Wie waren deine Reaktionen darauf, als du das Suchtproblem wahrgenommen hast? Also als Jugendliche, wie hast du darauf reagiert?
IP: Wie eben schon gesagt wütend, verständnislos warum man so viel konsumiert und sich so zum Negativen verändert, wenn man weiß, dass es die anderen verletzt. Mein Vater und ich haben am nächsten Tag häufig darüber gesprochen und er hat sich dann auch entschuldigt, weil ihm klar war, dass er sich falsch verhalten hat. Und als sich das dann immer mehr und mehr gehäuft hat, wurde man unfassbar wütend.
I: Hat dein Papa Hilfe in Anspruch genommen?
IP: Ja.
I: Inwiefern?
IP: Da sein Problem nicht nur die Sucht war, sondern er auch noch andere Probleme hatte, die sehr eng damit verknüpft waren, hat er irgendwann, als ich etwa 17 war, eine Therapie wegen diesen anderen Problemen gemacht, aber weiter getrunken. Als ich etwa 19 oder 20 war, hat er dann auch Hilfe wegen seiner Sucht in Anspruch genommen
I: Wie war die Zeit für dich als dein Papa in Therapie war?
IP: Also erstmal war ich sehr skeptisch. Ich habe nicht daran geglaubt, weil er auch vorher schon öfter gesagt hatte, dass er nichts mehr trinkt, oder auch das Problem nicht so erkannt hat. Als er sich wegen seinen anderen Problemen hat behandeln lassen, hatte ich sehr große Hoffnung, aber das Trinken war danach gefühlt schlimmer als vorher. Deshalb habe ich nicht daran geglaubt, dass es wirklich anhält. Ich war sehr skeptisch und habe mich kalt und traurig gefühlt, weil ich nicht daran geglaubt habe, dass es was wird. Und auch ängstlich, wie es weiter geht.
I: Wenn es nicht klappt?
IP: Ja.
I: Wie ist deine heutige persönliche Einstellung zu Suchtmitteln? Also wie ist dein eigener Konsum?
IP: Den eigenen Konsum hinterfragt man natürlich kontinuierlich. Ich trinke selbst auch Alkohol und habe auch in meiner Jugend ziemlich regelmäßig zu viel getrunken. Das passiert auch manchmal immer noch. Man hat Angst, macht sich sorgen und möchte das auch irgendwie nicht, weil es in der Familie so war, wie es war. Deshalb würde ich es am allerbesten finden, wenn ich gar nichts trinken würde, wobei das auch schwierig ist, weil das in meinem gesellschaftlichen Umfeld einfach so normal ist.
I: Wenn du es einordnen würdest, würdest du sagen, dass du genussvoll Alkohol trinkst, dass du eher ein problematisches Verhältnis zu Alkohol hast oder, dass du es sogar ablehnst?
IP: Ich würde sagen zwischen Genuss und problematisch. Irgendwie so eine Mischung, je nachdem wie ich mich fühle.
I: Würdest du sagen, dass es bis heute irgendwelche konkreten Auswirkungen des Konsums deines Vaters auf dich gibt?
IP: Ja.
I: Inwiefern?
IP: Zum einen vielleicht in positiver Weise, weil ich vielen Menschen, die einen problematischen Umgang haben, gegenüber empathisch reagieren kann, statt sie direkt zu verurteilen, weil ich weiß wie das ist. Zum anderen hat es die Auswirkung, dass genussvolles Trinken für mich nicht möglich ist, da ich mein Verhalten immer hinterfrage, ob es problematisch ist.
I: Kannst du irgendwelche Zusammenhänge zu einer psychischen Problematik oder einem abhängigen Partner bei dir wahrnehmen?
IP: Ja. Dadurch, dass bei uns in der Familie das Suchtproblem immer totgeschwiegen wurde oder generell nicht so viel gesprochen wurde, hat das lange Auswirkungen auf meine Psyche gehabt, weil ich selbst große Probleme hatte mich anderen Menschen zu öffnen oder über meine Probleme zu sprechen. An dem psychischen knabbere ich immer noch und bin auch häufig sehr unsicher. Was war das zweite?
I: Ein abhängiger Partner.
IP: Ja, also mein Partner hat auf jeden Fall auch ein problematisches Suchtverhalten.
I: Könntest du das genauer erklären?
IP: Eigentlich möchte ich dazu nichts Genaueres sagen.
I: Okay, ich verstehe. Wie ist die Beziehung zu deinen Eltern heute?
IP: Sehr gut. Also heutzutage besser, als jemals davor. Aber auch, weil mein Vater sehr lange sehr viel an sich gearbeitet hat und Alkohol seit acht Jahren kein Thema mehr für ihn ist.
I: Okay, das freut mich sehr für dich. Welche Stärken nimmst du aus der Zeit mit und was hat dir damals geholfen?
IP: Damals hat mir tatsächlich die Unterstützung von meiner besten Freundin sehr viel geholfen. Und ich denke auch, wie schon gesagt, dass ich dadurch sehr viel empathischer und verständnisvoller geworden bin, was die Probleme von anderen Personen angeht.
I: Okay. Wie hast du dein Erwachsenwerden erlebt? Hast du den Eindruck gehabt, dass du selbstständig geworden bist?
IP: Ja, also dadurch, dass die sucht meines Vaters noch aktuell war, als ich 18 geworden bin und meinen Schulabschluss gemacht habe, bin ich zwangsläufig ziemlich schnell erwachsen geworden, weil ich direkt von zu Hause weg bin und auf mich allein gestellt war. Dennoch hat sich das ziemlich gut angefühlt, da rauszukommen und mich selbst um meinen eigenen Kram zu kümmern.
I: Fühlst du dich immer noch verantwortlich für deine Eltern?
IP: Heutzutage nicht mehr. Ich würde sagen das Verhältnis ist umgekehrt zu vorher.
I: In die richtige Richtung?
IP: Ja.
I: Konntest du dich gut von beziehungsweise deinem Vater und seiner Erkrankung abgrenzen? Du hast ja schon eben gesagt, dass du schnell weggezogen bist, was ja auch schon eine Form der Abgrenzung ist.
IP: Ja.
I: Aber konntest du dich auch emotional abgrenzen?
IP: Nein. Ich würde sagen ich habe es maximal verdrängt und auch so wenig Kontakt wie möglich zu meiner Familie gehabt, aber im Endeffekt hat mich das auch belastet und traurig gemacht. Also ja, örtlich konnte ich mich sehr gut abgrenzen, emotional eher nicht.
I: Okay. Willst du noch irgendetwas anfügen, was in deinen Augen wichtig ist über das Aufwachsen in einem suchtbelasteten Haushalt?
IP: Ja. Sprecht mit den Angehörigen in eurer Familie, auch wenn es am Anfang schwierig ist und niemand darüber sprechen möchte, oder es wahrhaben will. Und auch, wenn es ein Elternteil ist, das traurig oder wütend ist, wenn ihr das Problem beim Namen nennt, ihr fühlt euch besser, wenn ihr es teilt. Ihr fühlt euch besser, wenn ihr die Verantwortung in die Hände von anderen Erwachsenen legt, damit es nicht mehr in der von Kindern liegt.
I: Dazu hätte ich noch ein Bild, was ich dir gerne kurz zeigen möchte, da es sehr gut zu dem passt, was du gerade gesagt hast. Vielleicht möchtest du deine Gedanken dazu mit uns teilen. (Frau, die Zeigefinger auf die Lippen legt wurde gezeigt)
IP: Gerne. Schweigen ist nicht die Lösung und auch wenn die Eltern oder wer auch immer die suchtbelastete Peron ist, euch darum bittet, ihr tut auch der betroffenen Person keinen Gefallen, wenn ihr es totschweigt.
I: Ich habe noch ein zweites Bild. Vielleicht fällt dir dazu noch etwas ein. (Bild mit der Linse wird gezeigt)
IP: Dazu fällt mir jetzt grade nichts ein ehrlich gesagt.
I: Nicht schlimm. Möchtest du sonst noch irgendetwas loswerden?
IP: Nein, das war alles, was ich sagen wollte.
I: Okay. Vielen Dank, dass du das Interview mit mir geführt hast.
Interviewpartner männlich, 56 Jahre alt, erwachsenes Kind einer alkoholkranken Mutter und ebenfalls – mittlerweile abstinent – von einer Alkoholabhängigkeit betroffen.
Alkohol bei der Mutter. Ganz schlimm. Es hat sich gesteigert. Ich war da vierzehn oder fünfzehn. Es ist losgegangen damit, dass sie uns kaufen geschickt hat. Meistens mich, weil ich der Älteste war und ich musste dann ganz einfach die Sachen besorgen. Das war mir am Anfang gar nicht so aufgefallen. Ich bin dann zu dem Lebensmittelhändler im Dorf gegangen und habe dann eben mal ein oder zwei Flaschen Wein gekauft. Nachher ist das dann weitergegangen. Dann wurde aus zwei Flaschen eine ganze Kiste. Ganz am Anfang war es auch Bier. Ein Kasten Bier am Abend war manchmal drin. Es ging abends los und um zehn oder elf Uhr war Schluss. Dann hat es sich gesteigert und es ist immer mehr geworden, auch tagsüber. Als ich siebzehn oder achtzehn war, da war es ganz extrem. Sie ist von zuhause weggelaufen und wir sind sie suchen gegangen. Es ist zuhause eskaliert, das war wirklich nicht schön. Ich wusste mir nicht zu helfen. Ich bin einfach ab. Habe mir eine Clique gesucht und war mit fünfzehn so gut wie nicht mehr daheim. Freitags aus dem Haus und Sonntagabend heimgekommen und die ganze Geschichte dann nur noch nebenher verfolgt.
Wir sind drei Buben und ein Mädchen. Irgendwann ist es dann so weit gekommen, dass wir sie einliefern lassen mussten. Da war nichts mehr zu retten. Ein Elternhaus hatte ich so gut wie keines, das war schlimm. Die Jahre im Alter von fünfzehn bis achtzehn, das waren die Jahre, in denen es so richtig rundgegangen ist.
Sie hat nie zugegeben, dass sie richtig gesoffen hat. Wir haben die Krankenhausaufenthalte mit einer Herzproblematik geregelt, weil wir da auch Jemanden kannten. Da hat sie es dann vierzehn Tage ausgehalten, kam nach Hause und legte direkt wieder los.
Den ersten Entzug hat sie nicht lange durchgehalten. Den letzten Entzug machte sie in einer Klinik, die etwas weiter weg ist. Danach war sie dann stabil. Sie hat ab und zu einen Rückfall gebaut, aber im Großen und Ganzen war sie stabil. Da war ich so achtzehn, neunzehn.
Das Chaos daheim war furchtbar. Sie hat da Sachen gemacht, die waren wirklich nicht schön. Sie ist gegen die eigenen Kinder vorgegangen, ist abgehauen. Das war ein Treiben, das war echt schlimm.
Meine Reaktion war, dass ich versucht habe, irgendwo anders Halt zu kriegen. Ich hatte immer Beziehungen. Das hat mir gefehlt, das war daheim nicht. Meine Mutter war… ja, furchtbar. Ich war der Grund, warum sie geheiratet hat. Wenn sie dann richtig gut drauf war, habe ich das zu hören bekommen. Da hieß es dann „du bist schuld, dass wir so sind, wie wir jetzt sind.“ Ja, prima.
Wie genau hat sie das gemeint?
Damals war es so, dass wenn sie schwanger war, musste sie den Mann heiraten. Ich war der Grund. Ich habe mal das Hochzeitsdatum und mein Geburtsdatum verglichen. Da wusste ich es.
Was war mit ihrem Vater? War er auch da?
Wir hatten eine kleine Schlosserei, die mein Vater von seinem Vater übernommen hat. Mein Vater war – sagen wir mal so – im Kopf nicht besonders bewandert gewesen. Mit sechzehn musste ich alle Sachen von der Familie machen, damit alles gelaufen ist. Die Schlosserei hat er so weit runtergewirtschaftet, dass da bald nichts mehr ging. Ich war auf dem Weg zur Fachoberschule, war Ingenieur. Dann rief meine Mutter an und sagte, dass ich Heim kommen müsste, sonst ist das Haus weg. Dann habe ich alles abgebrochen und bin nach Hause. Da war ich 22. Habe meinen Meisterbrief zwischendurch gemacht und hab dann die Firma übernommen und habe versucht, das Ruder rumzureißen. Das hat aber nicht funktioniert, die Schulden waren zu groß. Nach sieben Jahren habe ich Konkurs gemacht. Obwohl ich gern auch viel getrunken habe, habe ich es immer noch geschafft, das durchzuhalten.
Was meine Mutter damals kaputt gemacht hat, das ist einfach nicht mehr zu flicken gewesen.
Ja da gibt es mehrere. Wenn du heimkommst, dann findest du sie auf der Couch. Sie ist fertig ohne Ende und es geht nichts mehr. Das ist schon deprimierend. Es hat kein Essen mehr gegeben. Da haben wir angefangen selbst zu kochen, obwohl wir es nicht konnten. Das war immer lustig.
Dann hat sie meine Schwester komplett vernachlässigt. Da musste ich mich kümmern. Ich habe es zum Schluss einfach nicht mehr ausgehalten. Ich bin – wie gesagt – Freitagabend raus und Sonntagabend nach Hause gekommen. Den Rest war ich arbeiten. Habe immer geguckt, dass ich weg gekommen bin. Fertig. Bis es nicht mehr ging. Bis ich daheimbleiben musste, um alles zu machen.
In der Öffentlichkeit, natürlich, das Dorfgespräch, das war ja klar. Eine Situation ist mir … wenn meine Mutter stramm war, dann war sie am Anfang immer so euphorisch und wollte alles machen. Während sie es dann gemacht hat, dann hat sie weitergesoffen und ist abgehauen. Das beste Beispiel – da denke ich heute noch dran – als der runde Geburtstag meines Opas, ihres Vaters, war, da sollte sie kochen. Es waren nicht viele Leute da. Sie fing an, fand währenddessen dann den Schnaps, den der Opa immer noch selbst gebrannt hat. Dann ist sie stiften gegangen. Da haben die zwei sich vor der Haustür verkaspert und zwar richtig. Da bin ich gekommen. Das war was. Da denke ich heute noch dran und das ist mittlerweile 40 Jahre her. Es gibt wirklich so Situationen, die vergisst man nicht.
Als ich anfing zu saufen und dann die Parallelen gesehen habe, das war ganz schön deprimierend. Aus dem einfachen Grund, dass ich mich zum Schluss auch nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ab und zu hat man dann ja mal einen lichten Moment. Meistens morgens, wenn man wach wird, bevor man weiter säuft. Da habe ich das dann reflektiert, das war furchtbar.
Ich muss mich kurz sammeln.
Alles gut, das ist kein einfaches Thema, keine einfachen Fragen.
Ne. Gerade, wenn die Erinnerungen so hochkommen. Das ist furchtbar. Die habe ich eigentlich komplett weg. Das ist eine Kiste der Pandora, die habe ich ganz tief in mir vergraben.
Sollte es einen Moment geben, in dem Sie merken, dass Sie nicht mehr wollen, ist das absolut in Ordnung.
Nene, wir können das ruhig weitermachen. Das versuche ich schon seit Jahren. Diese Kiste zu öffnen und habe es nie geschafft.
Wie war das bei Ihnen in der Therapie? Haben Sie da nie drüber gesprochen?
Ich habe keine Therapie gemacht. Aus finanziellen Gründen, der Verdienstausfall. Ich habe gesoffen wegen dem Haus. Ich habe es nicht mehr geschafft, es zu bezahlen. Ich habe die Firma von meinem Vater übernommen. Ich habe versucht die Schulden abzubezahlen und meine Freundin ist ungewollt schwanger geworden. Dann heirateten wir. Es ging dann drum, was wir machen. Miete zahlen ging nicht. Wir sind dann bei meiner Oma im Haus eingezogen und ich habe angefangen das Haus umzubauen. Währenddessen war ich weiterarbeiten und habe auch gutes Geld verdient, durch die vielen Überstunden. Irgendwann waren die Überstunden weg und ich konnte die Raten nicht mehr zahlen. Meine Frau hatte alles verdrängt, für die gibt es keine Probleme. Irgendwann bin ich heimgekommen und da hieß es, dass wir nichts mehr zu Essen haben. Da habe ich angefangen zu saufen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Das ging dann ein halbes oder dreiviertel Jahr. Habe dann Gott sei Dank einen Termin bei der Schuldnerberatung bekommen und habe mit denen so weit alles geregelt, dass ich das Haus behalten konnte und die Raten moderat sind.
Da habe ich dann für mich beschlossen, dass ich weiterleben will. Habe dann aufgehört zu saufen und hab den kalten Entzug gemacht. Zuerst daheim. Das war die Hölle. Ich bin auf allen Vieren Richtung Bad. Danach bin ich ins Krankenhaus. Ich hab mich so geschämt, dass ich so runtergekommen bin und so abhängig wurde, dass ich den kalten Entzug daheim gemacht habe. Innerhalb von vier Tagen. Vier Tage die Hölle, das vergesse ich nie. Am fünften Tag bin ich ins Krankenhaus, um den normalen Entzug zu machen. Die mussten mich zuerst nochmal aufpäppeln. Da ging gar nichts mehr. Da war ich dann 21 Tage auf Entzug. Als die vorbei waren, dann bin ich weiterhin zur Suchtberatung bei der Caritas. Nach zwei, drei Monaten habe ich dann die Guttempler aufgesucht und bin seitdem bei denen.
Das war heftig. Die vier Tage waren die Hölle, wirklich. Ich dachte ich gehe drauf. Das ist ein Grund, aus dem ich nicht mehr saufe. Seitdem gehe ich arbeiten. Gucke, dass Geld kommt. Ich bin in der Selbsthilfe bei den Guttemplern und nehme noch regelmäßige Termine in der Suchtberatung wahr.
Finde ich echt gut.
Das muss ein. Ich bin ein Löwe, habe einen ziemlich sturen Kopf. Wenn ich etwas da drin habe, dann mache ich das auch. Ich habe für mich die Entscheidung getroffen, dass ich nicht mehr trinken werde. Egal, was passiert. Das werde ich auch tun. Das weiß ich. Denn ansonsten verliere ich die Selbstachtung vor mir selbst und zwar komplett. Dann wäre innerhalb von vier Wochen Ruhe. Das würde ich nicht überleben. Ich kenne mich so gut, dass ich das weiß.
Was mich ganz böse deprimierte, als ich für mich selbst feststellte, dass ich körperlich abhängig bin. Dass es nicht mehr ohne Alkohol geht. Da waren die Gedanken an meine Mutter immer wieder da. Ganz böse. Dasselbe Schema, was sie durchgezogen hat.
Die Gedanken waren da, weil Sie die Parallelen erkannt haben?
Ja. Die Flucht, weil ich den Alkohol zum Vergessen und Verdrängen eingesetzt habe. Ich wollte vergessen. Die erste Zeit geht das. Nachher geht das nicht mehr. Wenn man morgens wach wird und wird langsam wieder nüchtern, dann kommt alles hoch. Irgendwann habe ich dann morgens angefangen zu saufen und da wusste ich, dass ich es jetzt brauche. Dann musste ich an meine Mutter denken. Im Nachhinein habe ich das alles reflektiert. Habe die Gründe gesucht. Dann bin ich darauf gekommen, dass wir als Kinder alle auch ein bisschen Schuld hatten. Wir waren ein richtiger Sauhaufen, das muss ich so sagen. Sie war damit komplett überfordert, auch mein Vater. Er hat auch auf ihr rumgehackt. Das war auch ein ausschlaggebender Punkt, warum sie gesoffen hat.
Nein. Das war auch der Grund, aus dem ich abgehauen bin. Ich konnte daheim mit keinem drüber reden. Meine Geschwister haben das am Anfang alles runtergewiegelt. Erst als es extrem wurde, haben sie es richtig mitbekommen und versucht zu reagieren. Hat aber nie so richtig hingehauen. Dann habe ich versucht Hilfe zu holen. Hat auch nicht funktioniert. Die Klinik hat ihr geholfen, in der sie zuletzt war. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß. Sie war auch ein paar Mal hier, bei der Caritas. So weit ich das weiß.
Haben Sie im Nachhinein mit Ihrer Mutter darüber gesprochen? Oder war das dann einfach so?
Ich war froh, dass das Thema abgeschlossen war. Dass sie nüchtern war, dass sie funktioniert hat. Dass sie diese Eskapaden nicht mehr an den Tag gelegt hat. Das war grausam, was sie manchmal gemacht hat.
Was mir noch aufgefallen ist: Dass wie wir als Kinder reagiert haben, so haben meine Kinder reagiert. Ich habe versucht mit ihnen über meine Problematik mit dem Alkohol zu sprechen. Als ich den Entzug hinter mir hatte. Habe dann zur Antwort bekommen „Papa, es ist gut, dass es vorbei ist. Lass, wir wollen das nicht.“ Sie wollten nie direkt darüber reden. Ich muss dazu sagen, dass sie mich auch nach dem Entzug sehr unter Kontrolle hatten. Meine Kinder hatten immer aufgepasst. Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis das Vertrauen wieder da war. Dass sie mich alleine gelassen haben.
Das war auch Ihre Reaktion?
Ja. Am Anfang kontrollierten wir unsere Mutter. Was sie macht, wohin sie geht. Haben den Alkohol weggeholt. Als wir es verstanden haben, dann sind wir auch nichts mehr kaufen gegangen. Sie hat es sich dann auf andere Art und Weise geholt. Nachher ist es mir ja auch so gegangen. Ich kann sagen, man wird sehr erfinderisch. Das war eine sehr bittere Zeit. Bei mir ist etwas zurückgeblieben, denke ich. Ich habe große Schwierigkeiten damit, Beziehungen aufzubauen. Das habe ich nicht mehr so richtig geschafft. Auch mit meiner jetzigen Frau.
Was meinen Sie woran das liegen könnte? Fällt Ihnen Vertrauen schwer?
Ja, da bin ich sehr pessimistisch geworden. Ich bin von meiner Mutter so oft enttäuscht geworden. Am Schluss glaubte man ihr nicht mehr. Das Vertrauen war komplett weg, was auch ihre Versprechungen betraf. Aber wie ich vorhin sagte. Über die Jahre habe ich das dann öfter mal reflektiert. Habe die Gründe gesucht, warum sie gesoffen hat. Dann kam ich darauf, dass wir da auch Schuld hatten. Wir hätten sie eigentlich mehr unterstützen müssen. Dann wäre das nie so weit gekommen. Aber als da losging, dann denkt man nicht daran. Man ist dann in der Pubertät.
Ja die Pubertät, das stimmt. Aber Sie sind zu dem Zeitpunkt auch das Kind, egal in welchem Alter. Das sagen wir den Kindern in der Gruppe auch immer wieder. Dass sie nicht schuld sind und sie auch nicht die Verantwortung für das Verhalten der Eltern tragen. Sie waren auf keinen Fall schuld.
Seit ich 12 war wurde mir gesagt „pass auf die Kinder, auf deine Geschwister auf“. Das hat sich manifestiert. Ich bin für alles und jeden verantwortlich. Ich habe auf mein Geschwister aufgepasst. Mein zweiter Bruder kam als er Huddel mit der Freundin hatte. Meinem anderen Bruder half ich mit der Schule und seiner Lehre. Meiner Schwester habe ich geholfen, dass sie ihre Lehre machen konnte. Dann war es dann gut. Nur ich habe mich vergessen. Ich habe die Firma übernommen, damit die Kinder, also meine Geschwister, nicht auf der Straße sitzen.
Man merkt auch, dass Sie Ihre Geschwister oft als „die Kinder“ bezeichnen. Weil Sie immer die Rolle des Aufpassers hatten.
Ja, ja. Ich musste immer aufpassen. Zum Schluss auch auf meinen Vater. Ich musste alles machen, dass das Haus blieb. Mit dem Steuerberater, dem Finanzamt. Ich war achtzehn. Mit 22 habe ich die Firma übernommen und mich um alles gekümmert, während die anderen in Urlaub gefahren sind. Ich hatte keine schöne Jugend.
Dann bin ich reiten gegangen. Das war meine Flucht. Das war schön, richtig schön. Sobald ich 18 wurde, bin ich mit dem Motorrad zum Reiten gefahren. Daheim habe ich es nicht ausgehalten. Ich hatte immer das Bild vor Augen, dass wenn ich heimkommen, meine Mutter da liegt und war prall und konnte nicht mehr.
Sie sagten, dass das Reiten Ihnen was gegeben hat. Das war eine Ablenkung?
Das war Freiheit. Schlicht und ergreifend Freiheit. Mit 18 war ich da das erste Mal hin, habe reiten gelernt bei einem Bekannten. Bis ich Vater wurde und heiratete. Da war ich regelmäßig hin. Es war mein Fluchtpunkt. Das war schön. Das hat mich auch so ein bisschen am Leben gehalten muss ich sagen. Das war schön. Der Bekannte hat auch ein bisschen auf mich aufgepasst. Wenn ich gekommen bin und aussah wie ein Hund, weil ich gesoffen habe. Dann hat er mit mir gesprochen. Das hatte auch einen Wert und hatte eine Zeit lang gehalten. Das war ein Ersatz, das war gut. Ich mochte Tiere schon immer. Pferde besonders und Hunde. Mittlerweile habe ich auch Hunde. Das ist ganz gut.
Ich habe versucht mir eine Parallelwelt aufzubauen, die nie richtig existiert hat. Das war mein Lachplatz. Ich weiß nicht, ob Sie Onkel Remus kennen. Ein uralter Film. Da geht es um einen kleinen Jungen und der geht immer zu Onkel Remus, der ihm Geschichten erzählt. Wenn es dem Kleinen dreckig geht, dann sind sie den Lachplatz suchen gegangen, wo sie sich abgeschottet haben. Der Lachplatz war für den kleinen Bub damals die Rettung. Da konnte er hin und sich zurückziehen. Das habe ich auch versucht mir aufzubauen. Ich habe auch viel gelesen. Fünf bis sechs Bücher die Woche waren Standard. Da war ich richtig weg. Ich bin in dieses Buch eingetaucht und hab da quasi mitgemacht. Ich habe ein Buch mit 724 Seiten – das vergesse ich nie – in einer Woche durchgelesen. Das war mein Lachplatz, mein Fluchtpunkt, das war immer gut gewesen.
Als Erleichterung am Anfang. Weil ich kaum Geld hatte, war es auch schwierig. Dann habe ich versucht, eine ordentliche Familie aufzubauen. Habe mir da Illusionen geschafft.
Dann kam es zum Streit mit meinen Geschwistern, weil sie dachten, ich sei immer noch so wie früher. Wenn man was braucht, dann komme ich. Bis ich dann mal rigoros einen Schlussstrich gezogen habe. Auch mit meinem Elternhaus. Noch bevor ich vierzig war. Dann sagte ich, dass nun Schluss ist. Mit meinem zweiten Bruder habe ich seit 15 Jahren nicht mehr gesprochen. Mit den anderen ähnlich. Eine Situation war ganz lustig. Meine Mutter rief immer wieder an, wenn es Schwierigkeiten gab und sie nicht mehr weiter wusste. Sie rief an und sagte, dass ich kommen muss. Da bin ich natürlich gekommen, weil ich so getrimmt war, ganz einfach. Habe dann alles geregelt, repariert, habe sonst was gemacht. Ansonsten aber kein Kontakt mehr. Ich war auch nicht auf der Beerdigung meines Vaters. Ich hätte das nicht verkraftet.
Und für Sie ist das auch in Ordnung?
Ich habe meinen Frieden mit der ganzen Geschichte gemacht. Das einzige Problem ist, wenn die Erinnerungen hochkommen und die kommen oft hoch. Damit fertig zu werden, das ist schlimm für mich. So richtig habe ich das nicht verarbeitet. Ich weiß nicht, ob ich das je im Leben werde. Es ist aber gut. Ich mache jetzt mein Ding und die können ihres machen.
Es war eine schlimme Zeit. So im Nachhinein kann ich sagen, dass viel von dieser Zeit noch in mir drin ist und viel in mir verändert hat. Nicht grade zum Guten, weil da Depressionen hochkommen und man fällt manchmal in ein Loch rein, aus dem es schwer ist, wieder herauszukommen. Ich bin jetzt in einem Alter, in welchem bei meiner Mutter damals der Schluss war.
Wenn man jetzt andere Familien sieht, in denen es ganz normal lief, dann denkt man sich, warum das bei mir nicht so war. Dann geht es wieder los, dass ich den Fehler bei mir suche. Sie hat ja alles auf mich abgewälzt. Meine kleine Schwester war ein Jahr alt und da musste ich mich auch schon um sie kümmern. Frisch machen und so weiter. Das war nicht schön. Der Geruch der Pampers, ohje. Das sind so Schlüsselmomente, die bleiben für immer. Meine Mutter ins Bett geschafft, die Treppe hoch, weil sie nicht mehr gehen konnte. Dann bin ich zu Kollegen, war abgelenkt.
Als Jugendlicher bin ich viel mit Alkohol konfrontiert worden und habe auch schon stramm gesoffen, damals schon. Habe Beziehungen verloren, die ich gerne behalten hätte. Aber ja, die Sauferei eben. Später habe ich erfahren, dass sowas vererbbar ist. Der Bruder meiner Mutter hat sich totgesoffen. Die Mutter meiner Mutter hat gesoffen. Da waren in der Verwandtschaft ziemlich viele, die sich totgesoffen haben. Das scheint ja bei mir auch so zu sein. Da habe ich nur Bammel, dass das bei meinen Kindern irgendwann mal durchschlägt. Aber bis jetzt ist nichts passiert.
Aber das ist sehr schwer für mich. Das zu reflektieren und über meine Mutter zu berichten. Dass ich die Nerven behalte und nicht anfange lauthals zu weinen.
Glaube ich. Obwohl das auch okay ist. Das darf auch mal raus.
Sie haben auch erzählt, dass Sie mit Ihren Kindern reden wollten und das Gespräch gesucht haben. Das hatte einen ganz großen Wert. Sie gehen auch weiter zu den Guttemplern, zu der Beratung. Das ist ja schonmal anders als bei Ihrer Mutter. Sie haben den Schritt gemacht. Ihre Kinder haben dann gesagt, dass es jetzt okay ist. Das macht den Unterschied.
Ja, Kinder sind keine Nestbeschmutzer. Über diesen Schritt habe ich lange überlegt. Ich hatte Angst davor, große Angst. Was rauskommt, was auf mich zu kommt und wie ich dann Rede und Antwort stehen soll. Aber ich dachte, es hilft nichts. Du hast den Scheiß gebaut. Jetzt steh auch dazu. Das ist auch in mir drin, wenn ich Mist baue, dann regle ich das und haue nicht ab.
Als meine Mutter anfing zu trinken, das war eine sehr schlimme Zeit.
Mit welchen Gefühlen geht das einher, wenn Sie daran denken?
Das erste Gefühl ist Versagen. Dass ich versagt habe. Dann kommt Traurigkeit, dass es überhaupt so gekommen ist. Danach Wut, richtige Wut.
Das Versagen beziehen Sie hierbei auf sich. Obwohl Sie dafür nicht verantwortlich waren.
Das habe ich eingetrichtert bekommen. Von Anfang an wurde mir gesagt „Du bist verantwortlich. Du bist der Älteste. Du hast am meisten Verstand. Du musst das regeln“. Fertig.
Wenn ich zurückdenke. Dieses Versagen tut am meisten weh. Wenn ich dann so richtig drin bin, dann kommt zum Schluss diese Wut. Obwohl die Wut eigentlich unbegründet ist, aber sie kommt. Dass damals alles so den Bach runtergegangen ist.
Ich glaube, die Wut ist auch berechtigt da.
Bei Wut verliert der Mensch den Verstand.
Es kommt ja immer drauf an, ob wir uns von dem Gefühl einnehmen lassen und wie wir damit umgehen. Aber auch die negativen Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung. Die Frage ist nur, wie lasse ich sie raus. Schreie ich Jemanden an oder schreie ich in den Wald?
Lacht. Gar nicht, ich lasse sie nie raus. Ich behalte alles für mich. Das ist nicht gut.
Das ebbt alles nochmal ab. Mittlerweile geht es. Ich habe gelernt, damit umzugehen und wieder rauszukommen.
Ein Aspekt ist die Hoffnungslosigkeit, dass ich nicht dachte, dass es nochmal besser wird. Man hat immer gehofft, dass sie aufhört und es besser wird. Die Mama war die Welt und – wie soll ich sagen – sie war der erste Mensch, zu dem wir eine Bindung hatten. Die Mama war immer der Halt. Dann kackt dieser Halt ab. So richtig, nach Strich und Faden. Man hofft dann, es wird wieder besser. Sie wird wieder der Mensch, dem man Vertrauen und auf den man sich verlassen kann. Das ist aber nie wieder der Fall geworden. Dann musste man alleine zurechtkommen. Egal wie. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Dass die Hoffnung weg ist. Aber Hoffnung ist was ganz Wichtiges. Ohne geht man zu Grunde und das war damals der Fall. Das war furchtbar.
Würden Sie sagen, dass Sie die Hoffnung wieder zurückbekommen haben?
Nein, nicht so wirklich. Deshalb bin ich so ein negativer Mensch geworden. Für mich ist das Glas immer halb leer. Ich bekomme oft gesagt, dass ich positiver sein soll. Aber ich habe im Leben immer zuerst das Schlechte gesehen. Wenn es dann gut geworden ist, dann war es okay. Wenn es schlecht war, dann dachte ich, dass ich dafür bestimmt bin. Ich bin dafür da, dass es den anderen gut geht. Das ist so der Tenor, den ich aus dieser Zeit mitnehme. Das versaut einem das ganze Leben.
Dadurch fehlt wahrscheinlich der Blick für die Dinge, die gut sind und gut gelaufen sind. Beispielsweise ihr Engagement für andere und dass sie es geschafft haben, abstinent zu bleiben. Das sind ja tolle Sachen.
Das steht alles hinten an. Vordergründig sind immer diese Schwierigkeiten. Die positiven Dinge vergesse ich schnell, die schiebe ich immer weg. Um die Schwierigkeiten muss man sich kümmern, das habe ich so beigebracht bekommen. Da hatte der Alkohol am Anfang geholfen drüber wegzukommen, aber nie lange.
Dass ich mich nicht unterkriegen lasse. Egal was kommt. Egal was passiert, es geht weiter.
Meine Beraterin sagte mal zu mir, dass ich gelernt habe zu überleben und ich das immer schaffe. Und das ist wirklich so.
Es war schwer diese Stärke aufrechtzuerhalten. Das ist so ein Schutzschild und das bewahrt mich vor vielem. Ich bin von mir selbst überzeugt, aus dem einfachen Grund, weil ich es geschafft habe. Ich habe es geschafft zu überleben. All die Jahre und den ganzen Mist, der kam. Das habe ich alles überlebt und der Rest geht auch noch. Mir macht niemand mehr was vor. Man entwickelt eine innere Stärke. Hätte ich die nicht gehabt, dann hätte ich aufgegeben.
In irgendeiner Form bin ich aber immer auf der Strecke geblieben. Ich war immer für die anderen da, nicht für mich selbst. Das ist auch etwas, das übriggeblieben ist. Aus der Zeit mit meiner Mutter. Sie war besoffen und konnte nicht mehr, dann musste ich mich kümmern. Das ist immer noch in mir drin. Das fällt mir auch in der Selbsthilfegruppe oft schwer. Auch wenn ich zu mir selbst sage, dass ich nicht verantwortlich bin. Das Positive ist diese innere Stärke, das Negative ist dieses Verantwortungsgefühl. Dass ich für jeden und für alles verantwortlich bin.
Mit meinem Vater hatte richtig abgeschlossen. Aber die Sache mit meiner Mutter habe ich tief in mir vergraben und hole sie auch nicht gerne raus. Das ist irgendwie Verdrängung. Abgeschlossen habe ich mit meiner Mutter noch nicht. Dafür hat sie mich zu sehr darauf getrimmt. Was die Alkoholiker sehr gut können, einen vereinnahmen. Das ist auch der Grund, aus dem ich die Co-Abhängigkeit so gut kenne und das einschätzen kann, wenn Angehörige in die Gruppe kommen.
Auch eine Stärke. Das Verständnis dafür.
Ja. Weil es mir ja eigentlich genau so gegangen ist. Sie hat mich komplett vereinnahmt. Bis sie nüchtern war und dann auch blieb. Dann bin ich gegangen. Bis ich gemerkt habe, sie kommt jetzt alleine klar. Ich kann gehen. Die Geschwister waren alle unter. Dann bin ich gegangen und nicht mehr zurückgekehrt.
Ich könnte da noch hundert und tausend Sachen erzählen, die ich erlebt habe. Essen verbrannt. Meinen Vater hat sie der Vergewaltigung bezichtigt, obwohl der nicht mehr konnte. Da sind Sachen passiert.
Ich glaube, es gibt auch viel viel mehr noch zu erzählen.
Ja jetzt kommt alles nochmal hoch. Das wird eine lustige Nacht.
Ich wollte grade sagen, dass wir zum Ende kommen. Ich merke auch, es nimmt Sie sehr mit und es hat sie Überwindung gekostet. Ich möchte Ihnen nochmal meinen Dank aussprechen, dass Sie sich trotz des schwierigen Themas dazu bereit erklärt haben.
Es war auch eine Erfahrung für mich. Bisher habe ich noch nicht mal mit meiner Beraterin darüber gesprochen.
Wie geht es Ihnen jetzt damit?
Mir geht es im Moment nicht so gut. Aber auf der anderen Seite bin ich froh, nach langer Zeit mal wieder darüber gesprochen zu haben. Es ist wirklich ein sehr schwieriges Thema für mich. Es hat mich meine Jugend gekostet und es gibt bis heute Schwierigkeiten, die daraus resultieren. Damals gab es noch keine Hilfe. Da hieß es, dass man sich nicht so anstellen soll.
Meine Beraterin wird mit mir darüber sprechen, so gut kenne ich sie.
Ich möchte mich nochmal herzlich bedanken. Es war schön, dass wir drüber gesprochen haben. Ich glaube, dass es vielen Leuten hilft, die das lesen.
22-jährige Tochter eines alkoholkranken Vaters
Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass dein Vater Suchtmittel konsumiert?
Das war so mit 14. Ich weiß auch nicht, wie lange das vorher schon ging. Aber mit 14 ist es aufgefallen. Also so lange war es vermutlich nicht, weil er das nicht lange geheim halten konnte. Weil er sehr viel getrunken hat, von Anfang an. Aber, ja, also ein paar Monate ging das sicherlich.
Und an was hast du es gemerkt?
Also es war so ein Tag, bevor ich es wirklich bemerkt habe, ist er abends in der Küche auf dem Stuhl eingeschlafen. Also so falsch rum, so auf der Lehne. Und da haben wir noch drüber gelacht. Und er meinte, er ist so müde wegen der Arbeit, und er hat eine Ibu genommen, weil er so Rückenschmerzen hat. Und, ja, am nächsten Tag saß ich dann in meinem Zimmer, habe Hausaufgaben gemacht. Und dann habe ich einen Knall im Flur gehört und bin rausgekommen. Und dann lag er auf dem Boden. Und da habe ich auch gar nicht richtig verstanden, was überhaupt los ist, habe noch versucht, ihn anzusprechen. Und er hat nur so gestöhnt, würde ich sagen. Meine Oma war zu der Zeit noch im Haus. Dann bin ich zu ihr gelaufen, habe gesagt, dass irgendwas mit ihm nicht stimmt. Ich wusste, dass er vorher schon mal ein Suchtproblem hatte. Er war aber 12, 13 Jahre trocken.
Und, ja, meine Oma meinte dann direkt, ja, der hat bestimmt wieder getrunken. Weil sie kannte ihn ja so. Und als wir dann in den Flur gegangen sind, hat er sich schon so ins Schlafzimmer reingeschoben, auf dem Boden. Und hat dann die Tür zugetreten. Dass wir auch nicht rein konnten. Hat dann auch nicht mehr geantwortet. Meine Oma hat dann auch noch gesagt, dass sie jetzt den Krankenwagen anruft. Weil es hätte ja auch was anderes sein können. – Dann kam aber meine Mama nach Hause. Und bis sie dann im Haus war, hat er sich ins Bett gelegt und hat auch dann nicht mehr reagiert, hat dann geschlafen. Und sie hatte dann auch direkt den Verdacht. Und wir sind dann in den Keller gegangen und haben so kleine Wodkaflaschen überall gefunden und leere Weinflaschen, die vorher nicht da waren. Und, das sind die kleinen, die man so an der Tankstelle kaufen kann.
Und das heißt, er ist dann auch gar nicht ins Krankenhaus gebracht worden?
Ja. Also weil er sich selber noch ins Bett legen konnte und sie wusste, dass wahrscheinlich eher nichts passiert, weil sie ihn auch so kennt, hat er dann einfach geschlafen. Ich weiß gar nicht mehr so genau, wie das danach war. Also ich denke mir, die haben sich da gestritten. Ich habe an dem Tag nicht mehr mit ihm geredet.
Also, dir ist vor allem diese Szene in Erinnerung und das, was danach kam, eher so verwaschen?
Weil ich mich da auch zurückgezogen habe, weil ich auch in dem Moment gar nicht wusste, was ist überhaupt los. Bleibt das jetzt so? Wird das jetzt zu einem Problem? Und ja, ich habe dann erst mal meine Mama das so regeln lassen.
Kannst du auch gefühlsmäßig so beschreiben, wie es dir ging?
Es hat mich total geschockt, weil ich noch nie irgendjemanden in dem Zustand gesehen habe und schon gar nicht meinen Vater. – Man hat die Monate vorher (schon) gemerkt, dass er angespannt war, dass es ihm auch teilweise nicht gutging. Wir haben eher gedacht, dass er eine depressive Verstimmung hat oder so, und dass das auch wieder was wird, weil das war auch öfter so. Er war ein bisschen gereizt auch immer.
Konntest du denn darüber mit deiner Mutter oder mit der Oma sprechen? Oder warst du erst mal so allein mit deinen Gedanken und Gefühlen?
Am Anfang wollte ich darüber nicht so wirklich reden. Also das war dann auch so, dass mein Papa einen Tag oder zwei Tage später dann auch in mein Zimmer kam, nachdem meine Eltern drüber gesprochen haben. Und er hat quasi mir versichert und versprochen, dass er das nie wieder macht. Ich habe ihm auch gesagt, dass er mir das versprechen muss. Und ich habe auch nicht gewusst, dass das nicht einfach so geht. – Also vor allem, weil er schon mal aufgehört hat zu trinken ohne jegliche Hilfe. Also er war auch nicht in Entzugskliniken oder sonst was. Er hat es einfach gelassen. Meine Mama hat ihm damals quasi ein Ultimatum gestellt, entweder sie geht, oder er hört auf.
Das war, als ich noch klein war. Und dann war ich eben der Ansicht, okay, das funktioniert dieses Mal wahrscheinlich auch so. Aber hat es nicht. Und am Anfang ist bei so was ja auch immer sehr viel Scham dabei. Wir haben auch in der Familie nicht viel drüber geredet. Das kam dann stückweise einfach bei jedem dann raus. Weil er es auch nicht mehr kontrollieren konnte, wann er trinkt und wo. Das war auch immer so … Also es gab kein: ich trinke jetzt ein Bier und lege mich schlafen oder ich mach noch irgendwas im Garten oder ich schau noch Fernsehen –, es war wirklich immer so: ich trinke jetzt zwei, drei Flaschen Wodka und bin dann weg.
Was würdest du sagen, wie oft ist das vorgekommen?
Das wurde immer häufiger. Ich weiß nicht genau, wie viel das jetzt am Anfang war. Aber es hat sich rasant gesteigert. Und irgendwann war es jeden Tag so. Auch mehrmals am Tag, dass er dann morgens früh weggefahren ist, sich Alkohol gekauft hat, seinen Rausch ausgeschlafen hat, wieder weggefahren … Und immer so weiter.
Er hat ja am Anfang noch gearbeitet?
Ja, genau. Also auf der Arbeit hat er das nicht getan, am Anfang. Das hat alles gut funktioniert. Ja, haben wir uns auch gefragt, wie das sein kann. Und er hat auch mit Chemikalien gearbeitet. Und da war auch immer dann die Angst da, dass da was schiefgeht. Und er hatte auch die Schichtleitung dort. Und die wurde ihm dann aber auch nach einer Weile entzogen deswegen. Weil er auch nicht mehr so zuverlässig war. Und dann hat er irgendwann auch auf der Arbeit getrunken.
Also es hat (schon) noch lange funktioniert, dass er wirklich auch noch seine Arbeit machen konnte. Nach einer Weile dann nicht mehr. Und dann wurde er auch einmal von dort in den Entzug quasi gebracht, also ins Krankenhaus. Und hat aber dann die Schichtleitung verloren und hat dann nur noch unter Aufsicht gearbeitet. Und damit ist er auch nicht gut klargekommen. Ende 2018 ist er gekündigt worden, weil er nicht mehr hingegangen ist. Er ist da nicht mehr aufgetaucht, auf der Arbeit. – Er hat seit seiner Ausbildung in diesem Betrieb gearbeitet. Und deswegen ist da auch nicht viel passiert. Er hatte wirklich gute Kollegen, die dann auch auf ihn geachtet haben. Im Nachhinein denke ich mir, sie hätten ihn wahrscheinlich besser rausgeworfen. Wäre für alle sicherer gewesen und für ihn hätte es vielleicht zum Aufwachen geführt.
Das heißt, du siehst das im Nachgang auch kritisch, dass er da so lange mitgetragen wurde?
Ja. Das war aber zu Hause auch nicht großartig anders. Also, meine Mama war ja auch sehr lange dann noch mit ihm zusammen und hat das ja auch mehr oder weniger geduldet, weil sie sich nicht lösen konnte. Es wäre für uns alle gesünder gewesen, wenn sie sich einfach getrennt hätten, wenn sie früher einen Schlussstrich gezogen hätte. Ob es für ihn anders ausgegangen wäre, weiß ich nicht. Aber es wäre jedenfalls für meine Mama und auch für mich besser gewesen. – Also ich hätte normal in die Schule gehen können und hätte mich nicht um die Sachen kümmern müssen. So ging das nicht. Es war jeden Tag irgendein anderer Stress. Und ich habe mich auch nicht mehr zu Hause gefühlt dort. Und es hat sie auch sehr belastet. Und das ist dann auch öfter mal an mir hängengeblieben.
Was war mit der Schule?
Ich habe sehr viel gefehlt. Ich habe sehr wenig geschlafen nachts, habe dann auch nicht so die Aufmerksamkeitsspanne und einige Probleme, die ich hatte, sind dann einfach liegengeblieben. Da hat sich keiner mehr drum gekümmert. Das war in der Zeit etwas schwierig. Vor allem, weil man dann auch sieht, okay, bei den Mitschülern läuft das gerade ganz anders. – Also zum Beispiel ist niemand mehr zum Elternabend gekommen. Auch wenn es um Klassenfahrt oder so ging, musste ich immer hinterherlaufen, könnt ihr mir das bitte ausfüllen. Irgendwann hat auch niemand mehr Arbeiten unterschrieben. Also es hat sich generell niemand für meine schulischen Leistungen interessiert. Ich bin in manchen Fächern dann sehr schlecht geworden. Also zum Beispiel Mathe und Spanisch. Deswegen habe ich auch ein Jahr wiederholt. Ich habe dann ja trotzdem mein Fachabi gemacht und war dann am Ende auch okay. Aber es hätte mit Sicherheit besser sein können.
Gibt es denn noch weitere Schlüsselmomente, die mit dem Konsum deines Vaters in Zusammenhang standen?
Es wurde immer schlimmer. Also anfangs konnte man auch noch normal miteinander reden. Es gab auch Phasen, wo dann alles normal war, wo man dann auch noch zusammen gelacht hat und Dinge zusammen unternommen hat. Wir waren auch noch einmal zusammen im Urlaub. Und das ging ab einem gewissen Punkt aber gar nicht mehr. Er hat dann auch irgendwann angefangen zu trinken, bevor er Auto gefahren ist. Und er war zwischendurch auch öfter im Entzug. Man konnte ihn auch nicht aufhalten, was das angeht. Meine Mama hat das auch lange mit der Kontrolle versucht und ist dann überall mit ihm hingefahren oder sie ist selbst gefahren, wenn er nicht fahren konnte. Sie hat mich auch mit zur Tankstelle geschickt, dass er sich dort nichts zu trinken kaufen soll. Einmal hat er sich die Wodkaflaschen dann unter die Achseln gesteckt, bis er im Auto war. Also zu Hause ist das dann natürlich trotzdem aufgefallen. Da habe ich ihm dann aber auch gesagt, dass ich nicht mehr mit ihm mitfahren werde. Und auch meiner Mama. Ich fand das damals ganz schlimm, dass das so zu meiner Aufgabe auch ein bisschen wurde – ihn da so zu kontrollieren. Und es hat auch nichts gebracht. Dann war er einmal in Kur, 26 Wochen. – Ist zurückgekommen. Zwei Tage später hat er mich betrunken von der Schule abgeholt.
Einmal war meine Oma im Krankenhaus. Da musste ich dann noch mal mit ihm fahren, weil wir die abholen mussten. Und da hat er auch vorher was getrunken. Das ist aber dann erst aufgefallen, als wir dort waren. Also muss er das auch ein paar Minuten, bevor wir losgefahren sind, erst gemacht haben. Und dann hat er angefangen, auf der Station die Krankenschwestern anzuschreien, weil es ihm zu lange gedauert hat mit der Entlassung. Und dann habe ich ihn von dort heimgeschickt und hab dann die Stunde mit meiner Oma gewartet, bis ihre Schwester uns abgeholt hat. Und er hat dann zu Hause einen Riesenstreit mit meiner Mutter angefangen und hat dann dort auch rumgeschrien, was für eine schlechte Tochter ich bin. All das. – Für ihn war er normal. Er hat das in den Momenten gar nicht realisiert.
Gab es denn zwischendurch auch manchmal noch Momente, in denen er was realisiert hat?
Am Ende gar nicht mehr. Es wurde immer schlimmer. Er hat auch ein Auto kaputtgefahren, Totalschaden, wo er gegen eine Leitplanke gefahren ist und gegen einen Pfosten. Das stand dann einen Tag lang bei uns im Hof, und er hat es gar niemandem gesagt, weil er sich nicht getraut hat. – Und da hat meine Mama dann auch gesagt, so, noch einmal, und ich rufe die Polizei – wenn er sich ins Auto setzt. Dazu ist es allerdings nicht gekommen.
Ich selbst habe einmal die Polizei gerufen. Weil er im Haus rumrandaliert hat. Und hat meine Mama auch gegen die Tür geschubst. Sie meinte dann, dass ich die Polizei rufen soll. Habe ich dann auch gemacht. Ich denke, dass man das auch anders hätte lösen können. Weil die beiden sich gegenseitig sehr provoziert haben. Aber ja, die kamen dann auch. Und dann wurde nur gesagt: Ausnüchterungszelle kostet 200, 300 Euro die Nacht, Hotel kostet 90 Euro die Nacht. Dann haben sie ihn in ein Hotel gebracht. Und er ist dann morgens um 5 Uhr wieder betrunken bei uns aufgetaucht und hat sich …, also die Knie und das Gesicht komplett zerfallen, weil er im Wald gestürzt ist, auf dem Rückweg nach Hause.
Das ist auch öfter passiert, dass er irgendwo gefallen ist und dann Platzwunden hatte. Und das ist ihm dann meistens gar nicht aufgefallen. War irgendwo …, im Flur war dann Blut. Und dann ist man schauen gegangen. Und dann lag er mit einer Riesenplatzwunde im Bett.
Wie erklärst du dir diese rasante Entwicklung deines Vaters?
Ich glaube, er war einfach von allem sehr gestresst. Und er hätte früher schon Schritte einleiten müssen. Er hätte in Therapie gehen müssen. Ich denke auch, meine Eltern hätten sich einfach vorher trennen sollen, weil die beiden einfach nicht mehr glücklich zusammen waren. Und dann wäre das vielleicht auch anders gewesen. Aber seine Eltern hatten auch Suchtprobleme. Beide. Sein Papa ist gestorben, als er 15 war. Und seine Mama hat danach dann auch getrunken. Und er hat den Umgang (mit Alkohol) nie gelernt. Und er hat auch nie gelernt, dass man sich dann Hilfe sucht.
Wie ist es weitergegangen? Er war dann in Langzeitentwöhnung?
In der Zwischenzeit hat er dann auch eine Beziehung mit einer Frau angefangen, die auch mit ihm in Kur war. Und da war er irgendwie eine Woche verschwunden. Und wir wussten nicht, wo er ist. Und wir haben auch kein Lebenszeichen von ihm gehabt. Er ist nicht an sein Handy gegangen. Und dann habe ich ihm gesagt, als er dann wieder aufgetaucht ist, dass wir wirklich eine Woche lang Angst hatten, dass er irgendwo in einem Graben liegt, dass das so nicht geht. Und dass ich Angst um ihn habe. Und dass wir ja nur wollen, dass es ihm gutgeht. Und wenn er lieber eine andere Beziehung führt und auszieht oder sich einen anderen Job sucht, dass das auch okay ist. Dass ich einfach nur will, dass es ihm gutgeht. Und wir haben auch noch mal drüber geredet, ob er denn nicht noch einen Entzug machen will. Irgendwann hat er auch zugestimmt. Und wir haben – glaube ich – drei Stunden miteinander geredet. Und danach hat er mich gefragt, ob ich ihm Geld leihen kann, damit er noch mal zur Tankstelle fahren kann und sich was kaufen kann.
Das ist absurd.
Ja, da war es auch schon vorbei. Da gab es nur noch das in seinem Leben. Nix anderes. Da hat er auch schon einen starken Leberschaden gehabt. Also da hätte auch nichts mehr geholfen. Also er ist auch gestorben daran. Und anderthalb Jahre vorher wurde ihm das diagnostiziert im Krankenhaus. Und er hat nichts gesagt und auch nichts dagegen getan.
Wie waren deine Reaktionen als Kind, als Jugendliche auf die Situation zu Hause?
In der Zeit habe ich mich sehr, sehr oft sehr leer gefühlt. Auch depressiv. Mir ging es gar nicht gut. Ich wollte eigentlich nur weg. Aber ich konnte auch nicht weg. Auch immer, wenn ich irgendwo dann mal war, mit Freunden unterwegs oder so, kam dann immer eine Nachricht, entweder von meiner Mama oder von meinem Papa, das ist gerade passiert, oder: wenn du nach Hause kommst, erschrick dich nicht, weil …, keine Ahnung, er liegt im Flur oder so. Wo sie ihn dann auch nicht mehr aufheben konnte. Und ja, teilweise hab ich dann die Haustür aufgemacht und direkt den Schuh getroffen. Wenn ich dann als Erstes nach Hause kam und meine Mama noch gearbeitet hat. Wenn es nicht anders ging, habe ich ihm dann manchmal ein Kissen hingelegt.
Du musstest auch sonst sehr viel regeln als Jugendliche?
Das mit den ganzen Formularen und so hat angefangen, als ich mit 16 auch mal eine Weile ausziehen wollte und da dann ja auch Kontakt hatte mit dem Jugendamt. Und ich habe mir eine Wohngruppe angeschaut. Ich glaube, da hat meine Mama dann auch verstanden, okay, es ist ernst. Weil in der Zeit davor hat sie sich nicht viel darum gekümmert, wie es mir geht. Aber sie konnte das auch nicht. – Also, ich habe mich dann doch entschieden zu bleiben, weil ich es nicht mit mir selbst vereinbaren konnte. Und weil ich dort dann in anderen Dingen sehr eingeschränkt gewesen wäre, die ich zu Hause als Freiheiten hatte. Also zum Beispiel, wenn ich nachts erst um 1 Uhr nach Hause wollte von irgendeiner Freundin, konnte ich nachts auch erst um 1 Uhr zu Hause sein. Das hat meine Mama da nicht interessiert. Ich habe auch nichts gemacht, was irgendwie besorgniserregend war. Deswegen war das auch okay. Aber das wäre dann in der Wohngruppe nicht mehr gegangen. Und, ja, die Schuldgefühle waren dann gegenüber meiner Mama und meiner Oma, die auch noch in unserem Haus gewohnt hat, so groß, dass ich mich dagegen entschieden habe.
Und danach, nach einer Weile ist mein Vater dann auch ausgezogen in ein anderes Bundesland, mit einer neuen Freundin zusammen, die auch ein Suchtproblem hatte. Und wir haben dann angefangen, nach Möglichkeiten zu schauen, wie wir unser Haus finanzieren können, weil meine Eltern Schulden hatten. Und da war ich dann auch viel auf dem Amt, beim Jobcenter. Und habe mich auch darum gekümmert. Weil eigentlich wäre der Plan gewesen, dass ich mit 18 direkt allein in eine Wohnung ziehe. Ja, da mein Papa dann aber ein Jahr später gestorben ist, kam das noch mal anders. Und wir haben dann entschieden, dass wir doch weiterhin zusammenwohnen. Ja, wir wohnen in getrennten Wohnungen, aber trotzdem im selben Haus. In einer Wohnung würde das nicht funktionieren.
Gab es denn jemanden, mit dem du über alles gesprochen hast? Hast du ein Angebot wahrgenommen, wo du darüber sprechen konntest?
Ja, ich war bei der Caritas (Angebot Wiesel). Ich war tatsächlich, bevor das alles passiert ist, auch schon in einer Therapie. Weil ich generell so Probleme mit Depressionen hatte. Und die Therapeutin war aber mit dem ganzen Suchtthema sehr überfordert und hat mich deswegen an die Caritas verwiesen. Ich war ja dann hier auch in Einzelgesprächen. Und das hat auch sehr geholfen. Und es war gut, einen Ansprechpartner zu haben, der nicht in der Familie ist oder das alles tagtäglich miterlebt. Weil manchmal war es dann so – wenn ich hierhergekommen bin, ist mir erst aufgefallen, okay, das war eine verdammt beschissene Aktion. Und das hätte ich wahrscheinlich anders gar nicht realisiert, weil ich da so dringesteckt habe. – Und (in der Gruppe, C.O.) hat es mir dann auch gezeigt, okay, es gibt noch mehrere Leute da draußen, denen geht es auch so. Es gibt so viele Familien, in denen das so ist, weil das auch immer sehr verschwiegen wird.
Hat dein Elternteil, also dein Vater, auch Hilfe in Anspruch genommen?
Also mein Papa war auch bei der Caritas, hat das Ganze aber nicht ernstgenommen. Es war wirklich eher ein Zwang für ihn, dass er hierherkommt. Aus der Verzweiflung heraus kamen schon so Momente, wo er dann selbst Hilfe wollte. Aber die haben wegen dem erneuten Konsum dann auch nicht lange angehalten. Und dann war das immer so: okay, hier ist ein Hilfsangebot, das haben wir dir rausgesucht, geh da bitte hin. Manchmal ist er gegangen, manchmal nicht. Er war – ich glaube – insgesamt in vier Entzugskliniken. – Das Problem war, dass er dort den Mitpatienten immer gefallen wollte und auch seinen Therapeuten gegenüber nicht ehrlich war. Er wollte eben ein Bild aufrechterhalten von sich selbst, das andere bewundern können und gut finden, weil er sich selber nicht eingestehen konnte, dass er an einem Punkt ist, an dem er die Hilfe benötigt hätte, an dem er da nicht mehr alleine rauskommt. – Und deswegen hat er das nie ernsthaft durchgezogen. – Der Wunsch, eine Fassade aufrechtzuerhalten, der war sehr groß. Ich glaube, das ist ihm auch aus seinem Elternhaus so mitgegeben worden.
Wir waren mit unserer Familie auch sehr ehrlich darüber, was so passiert ist. Und das war für ihn auch sehr schlimm: Dass alle (im weiteren Familien- und auch Freundeskreis) Bescheid wussten, dass er dieses Problem hatte. – Er hat dann über seinen Job geprahlt, hat dann auch Lügen erzählt. Auch über uns Lügen, also über meine Mama und mich Lügen erzählt. Einmal hat er einer Freundin von sich erzählt, dass ich Medizin studieren würde und irgendein krasses Auto fahre. Und da war ich 16. Da bin ich weder Auto gefahren noch habe ich irgendwas studiert. Also ich glaube, er hat sich so ein bisschen das Leben ausgemalt, das er gerne gehabt hätte und hat das dann auch so weitererzählt. Auch von irgendwelchen Reisen, die er gemacht hätte. Aber das hat alles nicht gestimmt.
Wie würdest du die Beziehung zwischen Dir und Deinem Vater beschreiben? Was glaubst du, wie er dich gesehen oder wahrgenommen hat?
Das ist schwierig, mir das vorzustellen. Ich weiß auch gar nicht, was er überhaupt wahrgenommen hat in den letzten Jahren. Ich glaube, er hat sich eine Beziehung zu mir gewünscht, auch eine gute Beziehung. Aber es war nichts, was er oder ich hätte erfüllen können. Ich war auch sehr lange sehr wütend auf ihn. Er hat das auch gewusst. Ich habe sehr oft mit ihm gestritten in der Zeit und habe versucht, ihn irgendwie wachzurütteln, obwohl das weder meine Aufgabe war noch irgendwas, was ich hätte tun können. Und am Ende seines Lebens war er auch eine Weile obdachlos. Weil das mit seiner Freundin dann nicht mehr funktioniert hat. Und da sah er auch richtig schlimm aus. Man hat auch gesehen, dass er sehr krank ist. Er hatte ein ganz aufgeschwollenes Gesicht, gelbe Augen. Er hat furchtbar alt ausgesehen, hat ausgesehen, als wäre er 20 Jahre gealtert in den anderthalb Jahren, in denen ich ihn dann nicht gesehen habe.
Und da hatte ich dann auch Mitleid mit ihm. Und da kam dann auch erst so die Sicht: so, okay, er wollte das nicht. Und er hat das auch nicht gemacht, um mein Leben zu ruinieren. Und er wollte auch nicht sein Leben damit ruinieren. Aber er konnte es nicht anders. Und, ja, zu dem Zeitpunkt war es aber zu spät. Da ist er dann auch wieder hierhergezogen. Und ich glaube, er war dann noch drei Monate da. Also er ist nicht in unser Haus gezogen, sondern in eine eigene Wohnung. Da habe ich ihn aber auch nicht oft gesehen. Also im letzten Monat war er auch wirklich so im Delirium. Er hat Sachen gesehen, die nicht da waren. Er hat meiner Mama gesagt, dass er nicht will, dass ich ihn besuche, weil im Flur würden die Mitbewohner, also die Leute, die auch in dem Haus wohnen, aufeinander schießen. Solche Dinge. Er konnte dann auch irgendwann nichts mehr an Essen bei sich behalten. Und seine Toleranz war dann auch irgendwann runter. Er hat dann nur noch Wein getrunken.
Dann habe ich ihn am Vatertag noch einmal gesehen. Ich habe ihm auch einen Brief geschrieben, in dem ich ihm dann noch mal alles gesagt habe, was ich ihm so sagen wollte, habe ihm gesagt, dass ich ihm verzeihe und dass ich mir einfach nur wünsche, dass sein Leben gut ist. Auch wenn mir bewusst war in dem Moment, dass es wahrscheinlich nie wieder so werden kann. Und dass ich nicht mehr wütend bin. Und habe ihm ein bisschen von mir erzählt, was ich so mache. Weil ich wusste: das interessiert ihn schon. Aber er konnte es nicht mehr zeigen. Und das war auch das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Einen Monat später war er dann gestorben. Und die Nachricht wurde uns dann auch von der Polizei erst drei Tage später überbracht.
Hast Du noch eine Reaktion Deines Vaters auf Deinen Brief erhalten?
Nein. Also er hat mit meiner Mama drüber geredet und hat gemeint, dass er sich drüber gefreut hat und dass er ihn gelesen hat. Und das war eigentlich auch alles, was ich dann so wissen musste. Weil ein klärendes Gespräch wäre zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr zustande gekommen, nicht mehr möglich gewesen. Da war er schon sehr verwirrt.
Wie ist deine heutige persönliche Einstellung zu Suchtmitteln?
Also höchstens Genuss. Und, ja, eher Ablehnung. Ich trinke manchmal – aber nur auf Partys oder so. Und auch nicht viel. Während das mit meinem Papa war, habe ich auch nichts getrunken. Ich habe das erste Mal was getrunken, als ich 19 war. Und das war dann auch nur ein Glas Sekt. Und dann habe ich Leute kennengelernt, die einen gesunden Umgang damit haben. Und habe gesehen, dass man das im sozialen Setting schon mal machen kann.
Inwiefern hat dich diese ganze Sozialisation mit Deinen beiden Eltern geprägt?
Also hauptsächlich hat mir das einen sehr großen Teil von meiner Jugend genommen und versaut. Und in einer Phase, in der andere Leute dann Spaß hatten und sich auch über ihre Zukunft Gedanken gemacht haben, konnte ich immer nur an meine Eltern denken und an deren Zukunft. Und das hat mich in meiner Selbstfindung schon ein bisschen zurückgeworfen. Ich bin dadurch mit Sicherheit auch selbständiger geworden. Aber ich sehe das jetzt nicht unbedingt als was Positives. Also ich mag das auch nicht, wenn Leute sagen, so, dass man da mit so einer Stärke rausgegangen ist. Weil ich glaube, ich wäre sehr viel stärker, wenn das alles nicht passiert wäre.
Ja, und es ist immer noch ein Riesenpunkt in meinem Leben, den ich auch nicht einfach vergessen kann. Und natürlich macht das dann auch was mit der Psyche. Und ich muss dann in eigenen Beziehungen auch darauf achten, dass ich nicht irgendwie die Rolle von meiner Mutter annehme und mir jemanden suche, der ist wie mein Papa. Das ist auch so eine große Angst von mir. Und das hat auch Bindungsängste ausgelöst, zum Beispiel. – Also ich mache mir jetzt nicht so Gedanken, dass ich selbst ein Suchtproblem entwickle, einfach weil ich eine große Ablehnung dagegen habe und ja auch gesehen habe, es geht anders. Und meine Mama hat ja auch nie Probleme in die Richtung gehabt. Aber ich mache mir schon Gedanken, dass ich vielleicht auch mal in eine Rolle verfalle, wie sie auch.
Im Moment ist das ja nicht so, oder?
Ich gehe aber mit so einer Angst durchs Leben. Und ich habe dann zum Beispiel das Bedürfnis, irgendwie auch den Konsum von anderen Leuten so im Auge zu behalten und zu kontrollieren. So wenn ich sehe, okay, das könnte jetzt ein Glas zu viel sein, habe ich direkt so Panik und habe das Gefühl, ich muss da jetzt einschreiten. Und auch, wenn ich irgendwie Leute auf der Straße sehe. Man erkennt ja auch schnell Anzeichen darauf in anderen Menschen, die auf eine Sucht hindeuten. Vom Aussehen. Vom Verhalten. Und dann habe ich auch immer das Bedürfnis, irgendwas zu tun. Und ich kann es aber nicht. Und es ist ja auch nie erwünscht. –
So Sachen fallen mir dann auf. Und ich finde es schlimm, wenn das andere Leute dann nicht realisieren. Und auch, weil mein Papa eine Zeit lang obdachlos war, habe ich auch da sehr großes Mitgefühl und bin mir bewusst darüber, dass man den Leuten helfen sollte. – Und dann fällt es mir manchmal schwer, wenn man dann irgendwie abends irgendwo unterwegs ist, und dann sitzt jemand auf der Straße und redet mit einem – dann einfach weiterzugehen und … Also anderen Leuten fällt das ja nicht so schwer. Und es ist auch, wenn man mit einer Frauengruppe unterwegs ist, nicht so gut, wenn da ein Mann nachts im Dunkeln auf einen zukommt, dann da irgendwie stehenzubleiben. Das ist dann ja auch oft durch Angst geprägt, dass man nicht mit der Person reden will. Aber das kann ich nicht so gut mit mir vereinbaren. Aber wenn einem das nicht im persönlichen Umfeld passiert ist, ist es schwierig, sich vorzustellen: die Person hat eine Familie, der Person ging es mal anders, und die Person ist aus Gründen jetzt an dem Punkt, an dem sie ist, und nicht, weil sie das so möchte.
Fühlst du dich heutzutage immer noch in der Vergangenheit verstrickt? Verantwortlich? Vielleicht auch für deine Mutter? Oder eher losgelöst, dein eigenes Leben verfolgend?
Also verantwortlich fühle ich mich jetzt nicht mehr. Ich würde auch sagen, dass ich relativ selbständig lebe. Und, ja, auch nicht immer für sie irgendwie da sein muss oder das auch will. Also das hat bei mir auch ausgelöst, dass ich das teilweise nicht kann oder möchte. Und ich habe jetzt auch einen starken Sinn danach, mir mein eigenes Leben zu verwirklichen und ja, mich da nicht von anderen so leiten zu lassen. Jetzt zum Beispiel, also ich würde mich jetzt von meiner Mama nicht mehr beeinflussen lassen, was jetzt einen Umzug oder so was angehen würde. –
Sie hat auch realisiert, wie das früher so war und dass sie mich sehr eingeschränkt hat. Und dass die beiden mir Sachen abverlangt haben, die sie nicht hätten abverlangen sollen. Und deswegen kommt es jetzt auch selten zu Situationen, in denen ich dann mich zurückziehen muss.
Was ist denn deine Zukunftsvision?
Also ich bin ja noch im Studium. Wenn ich mit dem Studium fertig bin, würde ich dann auch gerne ein Stück weit wegziehen, vielleicht auch in die Nähe von einer größeren Stadt, damit ich dort auch eine Stelle haben kann, die ich will. Weil hier gibt es in der Medienbranche zum Beispiel nicht sehr viel Auswahl. Alles Weitere weiß ich noch nicht so genau. Ich habe einen relativ großen Freundeskreis mittlerweile, der auch nicht an einem Ort wohnt. Ich reise gern. Ich habe einen Hund, der ist mir auch wichtig. Ich weiß nicht, wie ich mir so den Rest von meinem Leben konkret vorstelle.
Und was würdest du dir so vorstellen, wenn das jetzt alles nicht gewesen wäre? Wie würdest du dir dich selbst vorstellen heutzutage?
Ich finde es sehr schwierig, mir das vorzustellen. Das war … Also auch, wenn das in einer kurzen Zeitspanne passiert ist, waren das ja sehr prägende Jahre. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie es anders sich entwickelt hätte. Das hat so viel beeinflusst in meinem Leben, dass ich keine Ahnung habe, wie es anders gelaufen wäre.
Im Nachgang zum eigentlichen Interview:
Ab irgendeinem Punkt ist mir uns (auch meiner Mutter) aufgefallen, dass weder Mitgefühl und Verständnis noch Ärger und Wut was bringt, weil es einfach zu spät war. Er wollte und konnte da nicht raus. Und wir konnten ihm auch nicht helfen. Und es war sehr schwer zu realisieren, dass man ihm nicht helfen kann. Egal was man macht. Irgendwann war es auch wichtig, den Eigenschutz ernst zu nehmen und sich dann zu entfernen. Und wenn man zusammenwohnt, auf engem Raum, ist das sehr schwierig.
Er war dann auch ein ganz anderer Mensch. Das war nicht zu vergleichen mit vorher. Also er hat früher auch viel gearbeitet und war auch an Feiertagen und oft dann auch erst abends da. Also wir haben nicht sonderlich viel Zeit als Familie irgendwie verbracht. Wir waren einfach früher dann auch mal schwimmen. Oder in den Sommerferien hat er dann immer drei Wochen frei gehabt. Und da waren wir Fahrradfahren und haben mal einen Film zusammen geschaut. Und so eine der Lieblingserinnerungen mit meinem Papa ist, als wir dann … Im August gibt es ja immer so Nächte, wo es viele Sternschnuppen gibt. Und da haben wir dann immer im Garten gesessen und haben uns dann zusammen die Sternschnuppen angeschaut. Und wenn ich eine nicht gesehen habe, hat er mir sie quasi geschenkt, also seinen Wunsch. Das fand ich sehr süß damals. – Die schönen Erinnerungen gibt es natürlich auch noch. Aber die sind für mich … Also mittlerweile sehe ich das nicht mehr so. Aber damals war es wirklich ein anderer Mensch für mich. Das konnte ich nicht vereinen.
Interview mit einer Betroffenen anlässlich der Nacoa-Woche Februar 2024
Eve ( Name geändert) wird in Kürze 18 Jahre alt und nimmt seit 2023 an dem Angebot Löwenzahn der Drogenhilfe Saarbrücken in Form von Einzelgesprächen und dem erlebnispädagogischen Gruppenangebot teil. Sie lebt seit dem Tod des Vaters bei Verwandten und besucht noch die Schule. Wir haben die Interviewfragen besprochen und auf ihren Wunsch hin, hat sie sich eine Weile alleine mit den Themen beschäftigt und die Fragen dann schriftlich beantwortet.
Interviewerin: Ungefähr 2 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben in Familien, in denen entweder Vater oder Mutter ein ernstes Suchtproblem haben. Bei Dir ist das auch so passiert. War Dir irgendwann bewusst, dass es so viele andere gibt, die davon auch betroffen sind?
Eve: Nein, mir war nie bewusst, dass es so viele andere Kindern und Jugendlichen gibt, die auch davon betroffen sind und es schockiert mich. Ich glaube auch, ich bin nicht die Einzige, die nicht wusste, dass so viele betroffen sind. Der Grund dafür ist, denke ich, dass zu wenig darüber gesprochen wird.
Interviewerin: Du lebst jetzt schon länger bei Verwandten. Dein Vater ist gestorben, Deine Mutter lebt in einer neuen Beziehung. Wenn du zurück schaust, was war in den früheren Jahren einerseits normal in eurem Familienleben? Und was waren andererseits die besonderen Schwierigkeiten?
Eve kann zu dieser Frage spontan nichts sagen. Sie meint allerdings, dass sie als Kind nicht hinterfragt hat, was normal in ihrer Familie läuft. Dass Kinder das eben so hinnehmen, wie es ist.
Interviewerin: Du bist zu einer Jugendlichen herangewachsen, die in vielen Lebensfragen sehr kompetent ist und die einen sympathischen Eindruck macht im Kontakt mit anderen Menschen. Was, würdest du sagen, hat Dir dabei geholfen, so zu werden, wie Du bist? Eventuell andere Verwandte, Haustiere, Lebensumstände, Hilfsangebote……….
Eve: Dabei geholfen haben mir in jedem Fall meine Haustiere, die haben mir immer eine bestimmte Sicherheit gegeben. Aber auch meine Oma hat mir sehr geholfen, so zu werden wie ich jetzt bin. Bis heute gibt sie mir immer passende Ratschläge, muntert mich auf und hört mir einfach nur zu.
Interviewerin: Deine Eltern haben immer gegen ihre Sucht angekämpft, haben Therapien gemacht usw. Trotzdem hast Du auch schwierige Zeiten und Erfahrungen mit deinen Eltern gehabt. Gibt es auch etwas, was Dir Deine Eltern trotz ihrer Suchterkrankung mitgeben konnten? Z.B. an Gefühlen oder Eigenschaften?
Eve: Ja, man sollte nie aufhören, für seine Ziele zu kämpfen. Sucht ist eine Krankheit, die einen das ganze Leben lang verfolgt. Mein Vater hat nach 20 Jahren den Kampf gegen die Sucht verloren. Meine Mutter kämpft heute noch Tag für Tag dagegen an und ist seit 6 Jahren clean. Sie kämpft für ihr Ziel und hört nie damit auf. Genau das haben meine Eltern mir im Laufe der Jahre mitgeben können.
Interviewerin: Was hättest Du jetzt, aus der Sicht einer fast Erwachsenen, zu dieser Frage zu sagen: Welche Unterstützung hätte Dir als Kind geholfen, die Du damals aber nicht hattest?
Eve: Ich hätte eine Person gebraucht, der ich hätte erzählen können, was Zuhause abgeht. Jemand, der mir bestätigt, dass es nicht normal ist, was Zuhause passiert und mir bzw unserer Familie geholfen hätte. Das hätte eine einzelne Person sein können oder auch so was wie „Löwenzahn“.
Interviewerin: Du hast noch einen jüngeren Bruder. Wie haben sich die Folgen der Suchterkrankung Deiner Eltern auf die Beziehung unter Euch Geschwistern ausgewirkt?
Eve: Die Suchterkrankung unserer Eltern hat unsere Beziehung stark beeinflusst. Wir sind unzertrennlich und haben eine sehr enge Bindung. Mein Bruder ist drei Jahre jünger als ich. Seit dem Tag, wo er auf der Welt ist, kümmere ich mich um ihn. Ich habe ihn großgezogen seit er da ist und Sachen übernommen, die die Aufgabe meiner Eltern gewesen wären. Z.B. habe ich ihm auch das Fahrradfahren beigebracht.
Interviewerin: Was würdest Du als Deine persönlichen Stärken bezeichnen, die Du in Deinem weiteren Leben gut gebrauchen kannst?
Eve: Ich bin sehr ehrgeizig, was mir in jedem Fall weiter helfen wird. Zudem bin ich sehr hilfsbereit.
Interviewerin: Du bist jetzt fast erwachsen und mögliche Suchtmittel wie Alkohol, Nikotin, auch Cannabis, sind zumindest „im Angebot“. Wie gehst Du selbst damit um?
Eve: Ich habe kein Problem damit, wenn andere Leute in meinem Beisein Alkohol oder Nikotin konsumieren. Ich selber trinke gelegentlich Alkohol auf Partys. Jedoch ist mir immer bewusst, wie gefährlich es ist und was vor allem Alkohol anrichten kann. Alkohol wird von der Gesellschaft sehr verharmlost, weshalb ich vor allem in meinem Freundeskreis versuche, über Risiken aufzuklären. Später berichtet E. noch von einer Situation, in der eine Freundin unter Amphetamineinfluss stand. Das war ihr sehr unangenehm und sie wollte nicht dabei sein.
Interviewerin: Was würdest Du gerne anderen Menschen sagen, damit sie die Situation von Kindern in suchtbelasteten Familien besser verstehen?
Die Kinder leiden unter dem Verhalten der Eltern, jedoch lieben die Kinder ihre Eltern auch. Sie sind ja schließlich ihre Familie. Sie wollen Hilfe haben, gleichzeitig haben sie aber auch Angst, denn sie wollen ihre Eltern nicht hintergehen, da sie ihre Eltern lieben und sich in den meisten Fällen für sie verantwortlich fühlen.
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